Die Letzte Liebe Meiner Mutter
und Martine schnell heraus, dass die Route über Frankreich tatsächlich die kürzeste war. Trigonometrische Geometrie in der Praxis. Die nächste Pinkelpause könnte zum Bespiel in Colmar stattfinden, einer Stadt, die sich einigen Klugscheißern zufolge mehr mit Deutschland als mit Frankreich verwandt fühlte, weshalb man den Leuten dort Sauerkraut mit Schinkenknacker servierte, um sich demonstrativ von der raffinierten französischen Küche wie auch dem ganzen Lebensgefühl jenes Volks zu distanzieren.
»Ein Mensch ist, was er isst!«, sagte Martine, einen Kalenderspruch rezitierend, und verputzte heimlich ein Stück Schokolade, das sie für aufregende Momente wie diesen in ihrer Handtasche versteckt hatte. Doch Jimmy sah es, vor seinen Augen: ein Stück Schokolade, tatsächlich! Schokolade von Callebaut, mit Haselnüssen! Nichts Besseres auf der Welt als ein Stück Callebaut. Außer: zwei Stück Callebaut. Den ganzen Riegel sah er im Gesicht seiner Mutter verschwinden, ohne dass sie gefragt hätte, ob er auch ein Stück wollte.
»Dass wir jetzt aber auch durch Frankreich fahren müssen!« Ein harter Schlag für Wannes, der dieses Szenario nicht einkalkuliert hatte und dem drum auch nicht eingefallen war, bei seinem Bankier französische Francs zu bestellen.
Jimmy freute sich schon auf die neidischen Blicke der Schulkameraden, wenn er in zwei Monaten – ohne ein Wort zu lügen auch noch! – erzählen würde, dass er in zwei fremden Ländern gewesen war. Zwei? Dreien sogar, mit Luxemburg!
Im Bus diskutierte man inzwischen die europäische Einheit. Es gab ja Politiker, die sich dieses Projekt ganz zu eigen gemacht hatten und meinten, dass sowohl das Leben als auch das Sterben billiger würden, wenn die Grenzen für Waren und Personen in allen Richtungen offen wären. Utopisten sprachen sogar schon begeistert von einer gemeinsamen Währung, einem Präsidenten für den ganzen Flickenteppich und träumten vom Te Deum von Marc-Antoine Charpentier als gemeinsamer Hymne, eventuell mit einem ins Esperanto übertragenen Text des alten Herrn Goethe, für alle Nationen zwischen Nordkap und Mittelmeer. Doch vorläufig musste man noch fluchend lange Schlangen an Zollstellen ertragen, nicht ahnend, dass man irgendwann noch einmal nostalgisch auf diesen Zeitverlust zurückblicken würde.
Französische Zollbeamte waren berüchtigt. In ihrem Chauvinismus ließen sie Renaults und Citroëns gelassen passieren und lebten ihre Willkür stattdessen an Wagen deutscher Herstellung aus – wie es heißt, aus Rache für ihren Präsidenten, den Gourmet François Mitterrand, der als Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg im Stammlager IX gesessen hatte, noch dazu mit einem Granatsplitter im Brustbein! Sie übten historische Vergeltung an allen, die glaubten, im Audi oder BMW unbehelligt an die Côte d’Azur düsen zu können. Niederländische Touristen, die aus landesüblichem Sparsinn den Wohnwagen mit eigenen Käsen, Matjes und Bintjekartoffeln vollgestopft hatten, stellten in den Augen der Zöllner öffentlich ihre Abscheu vor französischer Küche zur Schau und liefen Gefahr, einer rachlustigen Inspektion unterworfen zu werden. Inzwischen schmuggelten die Terroristen der Action Directe in Peugeot-Lieferwagen ihre Waffen ins Land, um auf den Champs-Élysées ungestört Juweliere abmurksen zu können und so ihrem Ideal, der Enteignung aller Kapitalisten durch das Proletariat, näher zu kommen. Doch das war Nebensache. Hatte aber die Frau so eines Beamten zu wenig Knoblauch ins Essen getan, waren die Schalotten verbrannt oder der Beaujolais in dem Jahr zu spät arriviert, reagierte der Gatte sich ab, indem er Privatwagen auseinandernahm. Koffer mussten ausgekippt werden, Sitze demontiert und Wattestäbchen auseinandergedröselt, bis man sicher sein konnte, dass sie keine Abhöranlagen enthielten. Nun ja, die Leute hatten eben dummerweise Streifen auf dem Jackett, und dementsprechend mussten sie sich verhalten. Das und ihre zum Himmel schreiende Langeweile waren der Urlaubsfreude manches Reisenden schon zum Verhängnis geworden. Wurde dann nichts gefunden, und bei diesen Routinedurchsuchungen fand man beinahe nie was, kam selten eine Entschuldigung über ihre Lippen. Höchstens noch ein »Allez, bonne route« , worauf sie brüllend vor Lachen in ihrem Büro verschwanden, um ihre wohlverdiente Pause zu halten, mit Kaffee und einem Stück Salami. Und sonntags: Saucisson de Lyon.
Die Van-Boterdael-Busse waren Volvos. Schwedisches
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