Die Letzte Liebe Meiner Mutter
Knackern zu erleichtern, hatte sie einfachheitshalber die dunkelste genommen. Je dunkler, desto mehr Blut. Und je mehr Blut, desto mehr Eisen – das beste Mittel gegen Wannes’ Mangelerscheinung, nach dieser Logik. Und so kam es, dass Wannes plötzlich voll Abscheu auf eine riesige Thüringer Rotwurst hinabblickte. Das Monstrum erinnerte ihn vage an einen in der Sonne getrockneten Hundehaufen, wie man ihn im Sommer im Stadtpark findet, wenn Hundebesitzer ohne eigenen Garten ihre Fiffi-Terrier und Schnauzer dort Gassi führen. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass Wannes in gesünderem Zustand beim Anblick dieses halben Meters Fleischerprodukt möglicherweise ganz andere Assoziationen bekommen hätte.
Kuckuck. Kuckuck.
Er dankte Martine. Auch wenn er vorhatte, die Wurst gleich unauffällig verschwinden zu lassen: Martines Liebesbeweis rührte ihn tief. Aber, wenn es ihr nichts ausmache, und sie solle es nur nicht persönlich nehmen, er wolle jetzt gern einen Moment allein sein, ein bisschen zu sich kommen. Sie solle sich inzwischen in aller Gemütsruhe das Museum ansehen, die verschiedenen Arten der Kuckucksrufe im Laufe der deutschen Jahrhunderte studieren und ihm am Abend alles erzählen.
Nein, sie fühle sich nicht abgewiesen, nein, überhaupt nicht.
Kuckuck.
Möglich, dass so ein Uhrenmuseum derartige Gedanken hervorlockte, aber es war in der Tat alles ein bisschen schnell gegangen in letzter Zeit, und – eingebildet oder nicht, psychosomatisch hin oder her – Wannes hatte gute Gründe für eine gewisse Erschöpfung. Kaum ein halbes Jahr zuvor war er noch Junggeselle gewesen und wohnte bei seinen Eltern. Gut, bis zu einem gewissen Grad hatte er auch dort schon gelernt, sich mit seinem Los als Arbeiter abzufinden, ein Schicksal, das ihm schon damals als ziemlich definitiv erschien. Sein bevorzugter Lebensentwurf war es zwar nicht, doch er las Zeitung, und so war ihm klar, dass die Umstände nicht danach waren, über die Art eines Arbeitsplatzes zu klagen. Eine Stelle zu haben , darauf kam’s an. Und so, jeden Morgen am Werkstor, schaltete er um. Er drückte die Stechuhr und war Arbeiter, und er wurde wieder ein Mensch, sobald er ausstempelte. So machten Millionen anderer das auf der ganzen Welt auch und würden es – leider – auch in Zukunft tun müssen. Aber trotzdem, wenn im Leben auf einmal alles so ganz festgelegt ist, kann das durchaus auf die Pumpe gehen. Eben noch ein junger Spund, der sich am Wochenende mit den Kumpels um die Jukebox tummelt – für jedes Fünffrancstück einen Song von Afric Simone und noch einen von Joan Jett and the Blackhearts! –, und dann auf einmal, wie das Leben so spielt, im Kino wie im richtigen Leben, ist es passiert, man verliebt sich Hals über Kopf und hat eine Affäre mit einer Frau, die ein kleines bisschen älter ist als man selbst, verheiratet und Mutter eines Kinds. Die Angst vor dem Mann seiner Freundin, der den Ruf eines Berserkers und Knochenbrechers besaß, an dem die Glaser schon so manchen Franc verdient hatten und der sich eines Tages auch an ihm rächen konnte, verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Wochenlang war er Tag und Nacht auf der Hut gewesen, hatte an jeder Straßenbiegung ängstlich um die Ecke gesehen, und auch das hatte bestimmt Spuren in seinem Nervenkostüm hinterlassen. Heimlich hatten sie eine Wohnung gemietet, heimlich sie eingerichtet, einen ebenso heimlichen Umzug hatte es gegeben, den ganzen Scheidungszirkus, er hatte neue Verwandte bekommen, einen griesgrämigen Schwiegervater und eine gottesfürchtige, sich das Leben vergällende Schwiegermutter, dazu ein sich ständig bemerkbar machendes Kind, das ihn zur Weißglut brachte. Inzwischen war die Beziehung zu Martine schon zu weit gediehen, als dass Wannes noch in sein früheres Leben hätte zurückkehren können. Jedenfalls nicht, ohne den Rest seines Leben als stadtbekanntes Arschloch dazustehen. Und jetzt, jetzt sorgte der Druck, in ihre paar Urlaubstage auf Biegen oder Brechen so viel Spaß wie nur irgend möglich hineinstopfen zu müssen, schon wieder für neuen Stress. Jeder Arzt, der das hörte, hätte ihm sofort eine Yogamatte verschrieben.
Siebenundzwanzigeinhalb war Wannes in Furtwangen – und alt, das spürte er.
Gegen seinen eigenen Vorsatz nahm er einen herzhaften Bissen von der Blutwurst, als er Martine strahlend aus dem Museumsladen herauskommen sah, eine Kuckucksuhr unter dem Arm. Um ihm eine Freude zu machen, hatte sie ihren Geiz überwunden.
»Fürs
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