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Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Die Letzte Liebe Meiner Mutter

Titel: Die Letzte Liebe Meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dimitri Verhulst
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weiß ich nicht, und ich will’s auch nicht wissen!«
    »Ein Deltiophiler ist …«
    »Ich hab doch gesagt, ich will es nicht wissen!«
    »Ein Deltiophiler ist ein …«
    »Wag’s nicht, Bürschchen!«
    »Ein Deltiophiler ist ein Sammler von Ansichtskarten!«
    Jimmy hatte keine Zeit, sich in seiner Kenntnis der seltensten Kreuzworträtselworte zu sonnen. Blitzschnell war es gegangen. Wannes’ Hand. Mitten in Jimmys Gesicht, der natürlich viel zu stolz war, deswegen zu weinen.

Kapitel 23
    S o lange war es noch nicht her, dass Martine, während sie den von ihrem Mann geschleuderten Blumentöpfen und Suppentellern auszuweichen versuchte, von einem anderen Leben geträumt hatte. Vielleicht war das die ganze Ehe hindurch ihre Rettung gewesen, und sie läge ohne die Gabe, sich ab und zu an einen anderen Ort zu phantasieren, längst auf dem Selbstmordacker neben dem Friedhof – und das ist nicht metaphorisch gemeint. Absolut nicht. Wie oft hatte sie sich dabei ertappt, wenn sie im Schuppen Kartoffeln holte, voll Verlangen den Balken im Dachgestühl anzustarren. Sie war keine Heldin, das wusste sie. Zum Zahnarzt ging sie erst, wenn nicht einmal mehr ein Röhrchen Tabletten die Schmerzen zu lindern vermochte, und selbst dann konnte die Furcht vor der Spritze den Wunsch, die Zahnschmerzen endlich los zu sein, noch besiegen. Vorsorgeuntersuchungen beim Gynäkologen schob sie vor sich her, obwohl deren Wichtigkeit ihr einleuchtete. Doch nie zweifelte sie daran, dass sie ohne zu zögern auf einen Eimer steigen, sich die Schlinge um den Hals legen und springen könnte. Über viele Jahre hatte sie sich Abend für Abend am Dachbalken hängen sehen. Manchmal war sie selbst darüber erstaunt, dass sie fünf Minuten darauf in der Küche die Kartoffeln wieder ganz normal schälte, spülte und auf den Herd stellte, so wie jeden Tag, alles im Dienst eines Manns, der zuletzt doch wieder nur angetrunken nach Haus kam und außerdem viel zu spät, um ihre gediegene Mahlzeit noch warm hinunterzuschlingen.
    Martine wünschte sich einen unauffälligen Tod, sie würde den Zugverkehr nicht behindern. Vielleicht wollte sie auch ihren Eltern das Elend ersparen: das Leid und die Schande, eine sündige, weil selbstmörderische Tochter erzogen zu haben. Vor allem aber war da ja noch Jimmy, den sie unmöglich mit seinem Orang-Utan von Vater allein lassen konnte. Im Grunde sollte sie den Jungen mit in den Tod nehmen, das erschien ihr als das Klügste. Bloß: Hatte sie für sich einen ganz und gar untheatralischen Tod im Sinn, eine Art Sterben im Schatten, so wäre es nicht ganz so einfach, ihren Sohn des Lebens zu berauben. Was sagt man als Mutter, wenn man sein Kind umbringt? »Es ist zu deinem Besten?« Bevor es so weit käme, hätte der Kleine bestimmt alle Fenster der Umgebung in Scherben gekreischt. Außerdem war der Junge körperlich bereits viel stärker als sie, ihr blieb also nur ein Überraschungsangriff, ihn im Schlaf ersticken, mit einem Kissen oder so.
    So hatte sie in der Vergangenheit manchmal gedacht. An die möglichen Mittel, das Wie und das Wann. Sie hätte ein Leben geführt, das höchstens einen Dreizeiler wert war, eine Randnotiz unter dem Titel vielleicht: »Familiendrama in X …«, um danach gleich wieder vergessen zu werden, wie die vielen, über deren Versterben das Lokalblatt unter »Verschiedenes« berichtet, mit etwas Glück wenigstens ohne Rechtschreibfehler im Namen. Die unbesungenen Existenzen. Vergessen, noch bevor sie vergangen. Vergessen, doch endlich vorbei.
    Wie gesagt, ihre Tagträume hatten ihr erlaubt, in einer anderen Dimension Atem zu schöpfen, und ihre geliebten Serien dienten einem ähnlichen Zweck: ein Fluchtweg aus der Realität. Seltsamerweise waren gerade die Serien voll ehelicher Krisen und Kräche. Nun ja, »seltsamerweise« … Man muss kein Genie sein, um einsehen zu können, dass gerade die Unglücklichen sich gern ein Weilchen ins Leid von anderen versenken. Das Elend ist außerhalb, bis zur Reklame. Und so blieb sie am Leben, dem Tag entgegen, an dem sie Wannes begegnen sollte.
    Die ganze Fahrt nach Furtwangen über hatte sie aus dem Fenster gesehen, um plötzlich erschrocken zu realisieren, dass sie immer noch tagträumte. Passierten sie einen Bauernhof, fragte sie sich, wie es wohl wäre, dort zu wohnen, zu arbeiten und zu lieben. Jeden Anlass, sich in andere Leben hineinzuversetzen, ergriff sie begierig – und sie hätte sie samt und sonders gern ausprobiert, wenn es dem Menschen vergönnt

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