Die Letzte Liebe Meiner Mutter
Absichten. Warum schnitt sie das Thema überhaupt an? Und hatte da nicht etwas Provozierendes in ihrer Stimme mitgeschwungen?
Okay, immer wieder traf man Leute, die Vererbungslehre als Hobby betrieben. Denen es Spaß machte herauszufinden, von welchem Elternteil die Nase des Kinds stammte, und welcher von beiden die krummen Zähne im Mund der Nachkommenschaft zu verantworten hatte. Ein Spiel, mit dem sich einige Spürnasen gern die Zeit vertrieben und das manchmal zu lustigen Szenen führte wie hier. Doch wer konnte Wannes garantieren, dass diese ansonsten sehr umgängliche Frau kein schmutziges Spiel mit ihm trieb? Gut möglich, dass sie schon lange gemerkt hatte, dass mit Familie Impens etwas nicht stimmte, und sie in ihrer bisher gut versteckten Eigenschaft als Intrigantin Wannes aus der Reserve locken wollte. Um sich die Zeit zu vertreiben. Schließlich musste auch Marie-Louise schon seit einigen Tagen ohne Home Is Where My Children Cry leben und konnte ein bisschen anderweitige Spannung sicher gut gebrauchen.
Wannes wurde heiß und kalt bei dem Gedanken, dass er vielleicht als lebender Fernsehersatz diente und die anderen sich schon die ganze Woche heimlich über ihn amüsierten, über ihn und darüber, wie dieser zusammengewürfelte Haushalt krampfhaft die Illusion von, ja, von was eigentlich?, von Respektabilität? aufrechtzuerhalten versuchte.
Denn das war ein Soapelement, wie die Meute es liebte. Man brauchte sich nur anzusehen, wie gierig und mit welchem Vergnügen die schmutzige Wäsche der Parlamentarier ans Licht gezerrt wurde. Dass beispielsweise diverse Senatoren der Christlichen Volkspartei Liebschaften hatten, war ein offenes Geheimnis, an ihrer Ehe jedoch hielten sie fest, wie leer und erloschen die auch sein mochte. Und alles nur dem schönen Schein zuliebe, um keinen Millimeter von der Parteilinie abzuweichen, die pathetisch und bar jeder statischen Kenntnis von der Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft sprach. Lieber die jesuitische Heuchelei, im Dienste der christlichen Nächstenliebe natürlich, als die Schande der Ehescheidung.
Es musste für andere amüsant sein, Wannes mit einem dieser oft karikierten Senatoren zu vergleichen.
Er hatte noch einen anderen Grund, nervös zu werden, und das war der Galgenstrick Jimmy, der wieder einmal mit undurchschaubarem Gesicht mit am Tisch saß. Voll Wut auf die Welt, wie sich das in seinem Alter gehörte.
Wannes sah Martine an, Martine sah Wannes an, und beide wussten, was der andere dachte, dass nämlich der Bengel seinen Triumph witterte. Der Weg dorthin stand weit offen. Jetzt hatte er die Chance, aller Öffentlichkeit quietschvergnügt preiszugeben, dass Wannes überhaupt nicht sein Vater war.
Doch Jimmy schwieg. Und fünf Sekunden später schwieg er noch immer. So wie er sich vorgenommen hatte, Wannes gegenüber für alle Zeit zu schweigen. Wischnu der Zweite. Die einzige Kommunikation, die er sich gestattete, war sein typisches Lächeln, das all seine Lehrer als »arrogant« umschrieben.
»Von seiner Mutter kann ich so schnell nichts an ihm entdecken, aber dir ist er wie aus dem Gesicht geschnitten«, fuhr Marie-Louise fort.
Allmählich wurde es Zeit, dass Wannes irgendwas antwortete.
»Wenn er mehr nach seiner Mutter käme, wär das natürlich viel besser für ihn!«
Ein Scherz, der den ganzen Tisch zum Wiehern brachte. Gut, es war ein dankbares Publikum, und nach ein bis drei Zwetschgenwasser war so ein Lachen auch schnell etwas lauter als sonst. Aber trotzdem, er hatte sich schlagfertig gezeigt. Und außerdem seiner Frau vor aller Ohren ein Kompliment gemacht. Zweimal ins Schwarze. Oh, wie das Brathähnchen ihm nachher schmecken würde!
Wenn Jimmy irgendwem ähnlich sah, dann seinem wirklichen, biologischen Vater. Und nicht nur ein bisschen. Von Klonen sprach damals noch niemand, außer in gewissen Science-Fiction-Filmen, die die meisten zu weit hergeholt fanden. Doch schlichten Gemütern in Unterhaltung und Geist hätte man mit Leichtigkeit weismachen können, dass Jimmy aus der Vereinigung seines Vaters und eines Blatts Kohlepapier entstanden war. Und das nagte an Martine natürlich am meisten. Sie wagte es zwar nicht laut zu sagen, aber es war nicht zu leugnen: Ihr Kind glich ausgerechnet dem Menschen aufs Haar, dem sie am liebsten den Kopf abgeschlagen hätte. Darüber schrieben die Frauenzeitschriften nie, wie man das machte: ein Kind zu lieben, das dem durch und durch verhassten Vater so ähnlich sah. Am liebsten hätte
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