Die Letzte Liebe Meiner Mutter
Martine ihre Vergangenheit so gründlich vergessen, als hätte sie nie eine gehabt, nicht mal eine vergessene. Einfach gar keine! Doch kaum schaute sie ihren Sohn an, stand sie wieder in der alten Küche und steckte Vorwürfe und Faustschläge ein. Der Junge, natürlich konnte er nichts dafür, doch er war die Kopie eines Sauhunds, die Miniatur eines Monsters.
Worauf Marie-Louise mit ihrer Bemerkung auch immer gezielt hatte, eigentlich wäre es für Martine die ideale Gelegenheit gewesen, ganz locker die Wahrheit zu sagen. Irgendwas wie: »Witzig, dass du da Ähnlichkeiten entdeckst, Wannes ist nämlich überhaupt nicht der Vater!«
Man stelle sich vor … Marie-Louise hätte ziemlich dumm dagesessen, die Gruppe dafür einen Witz von Format genossen, einen Beitrag zur Stimmung, reihum Schenkelklopfen, Gewieher und Gelächter, und so wäre heiter und mit einem großen »Uff!« der Vorhang vor dem anstrengenden Stück gefallen, das diese Recyclingfamilie seit Anfang der Reise hier spielte. Doch Martine entschied sich für Starrsinn und sagte: »Unglaublich, wir können hinkommen, wo wir wollen, immer sagen alle, Jimmy sähe Wannes ähnlich. Von mir nie ein Wort. Nie! Als wäre ich gar nicht beteiligt gewesen!«
Das hatte Klasse! Das war Full House spielen mit einem Satz beschissener Karten. Und sie genoss es. Wie Wannes. Das hier war ihr heimliches Spiel.
»Oh«, entschuldigte sich Marie-Louise mit einer Volksweisheit, »ich wollte nur sagen: Schönes Kind, ähnelt’s dem Vater!« Und weil sie irgendwie spürte, dass Martines verletztes Mutterherz jetzt natürlich vor Eifersucht kochen musste, fügte sie zum Trost schnell hinzu: »Aber er hängt doch mehr an der Mama, hab ich den Eindruck, nicht wahr? Mit dem Papa seh ich ihn jedenfalls nicht so oft reden …«
Jetzt wurde es spannend.
Die Rettung kam von Rudy. »Das ist normal für Jungen in seinem Alter. Als würden sie spüren, dass es die letzte Gelegenheit ist, noch mal ganz Kind zu sein und an Mutters Röcken zu hängen, und dass sie danach endgültig zum Mann werden müssen. Mach dir nichts draus, Wannes, meine Kinder haben sich in dem Alter auch nicht um mich gekümmert. Außer sie brauchten Geld natürlich, dann war’s auf einmal wieder Papi hinten und Papi vorn.«
»Und in der Schule? Läuft da auch alles gut?«
Hunde und Kinder, zwei nützliche Mittel, um sozialen Kontakt zu fördern. Der menschliche Charakter mag im Laufe der Evolution mehr zur Eigenbrötlerei hin degeneriert sein, in Stadtparks sind es immer noch die Besitzer von Wauwau oder Kinderwagen, die spontan mit Gott und der Welt ins Gespräch kommen.
»In der Schule? Och ja, wir können nicht klagen. Seine Noten dies Jahr können sich sehen lassen. Mathematik hätte etwas besser sein können – aber natürlich auch schlechter.«
»Na denn – alle Achtung! Und weiß er schon, was er mal werden will?«
»Tja, das musst du ihn selbst fragen, uns erzählt er nie was davon.«
»Sag mal, Jimmy, was willst du mal werden? Weißt du das schon?«
»Philosoph!«
»Philosoph?«
»Ja, Philosoph.«
»Na ja, es kann natürlich nicht jeder Fußballer oder Pilot werden wollen, stimmt auch wieder …«
Und damit war das Thema elegant zum Abschluss gebracht. Worauf Esmeralda, eine brave Seele und schon zum vierten Mal mit Van-Boterdael-Reisen im Schwarzwald, Martine fragte, ob sie wohl so eine Astronautenpille gegen Durchfall entbehren könne, denn das Kalbsschnitzel von heute Mittag sei ihr doch nicht so hundertprozentig bekommen, und ihr Gedärm würde jetzt von einer dämonischen und Deutschland nicht wohlgesonnenen Macht malträtiert. Worauf Linda, die Frau des immer T-Shirts mit Biersprüchen tragenden Mannes, der Runde erzählte, dass sie schon seit Jahren jeden Sommer nach Deutschland komme und nie ein Problem gehabt habe, dass heut nun aber doch Geld aus ihrer Handtasche verschwunden sei, und zwar, wie sie vermute, in Freiburg, wo sie ein paar Farbige habe herumlungern sehen, dass sie insgesamt aber noch froh sei, dass ihr Pass und die Versicherungspapiere nicht weg seien, denn es sei ja immer so ein Gedöns, die neu zu beantragen. Worauf Pascal, der immer T-Shirts mit Biersprüchen tragende Mann höchstpersönlich, eine Handvoll deftiger Gastarbeiterwitze auftischte. Gefolgt von der Bestellung einiger Mass Bier.
Kapitel 31
D er Busfahrer hatte nichts dagegen gehabt, Héloïses Musikkassette zu spielen. Mehr noch, er war heilfroh über ihre übrigens mit ausnehmender Höflichkeit
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