Die Letzte Liebe Meiner Mutter
zusammen mit Héloïse in einem Tretboot, während die anderen sich am Ufer auf den zahlreichen Terrassen vergnügten. Jimmy, Teil einer Postkartenansicht des Paradieses. Ein Paradies zwar voll »Riegeler Bier«-Sonnenschirmen, doch Glück stört sich nicht an solchen Details. Er genoss das glitzernde Licht auf dem Wasser, das Gekreisch sich nass spritzender Kinder, das Deutsch, das er überall hörte und das ihm eigentlich sehr gut gefiel (»nichtsdestotrotz« war das schönste Wort auf der Welt, und es würde noch schöner werden, wenn er erst wüsste, was es bedeutete) – all das genoss er, und die Anwesenheit von Héloïse neben sich. Wäre er ein junger Hund gewesen, er hätte sich nass gepisst vor Freude.
»Denk daran«, hatte seine Mutter gemahnt, nicht ganz glücklich damit, dass sie ihren Sohn den Gefahren dieses Binnenozeans aussetzen sollte, »denk daran, dass du keine Dummheiten machst! Sei vorsichtig und vernünftig! Pass auf, dass das Tretboot nicht sinkt!« Als hätte er vor, sich ins Wasser zu stürzen! Hatte sie etwa vergessen, dass er Nichtschwimmer war? Vom Anleger aus machte Martine schnell noch ein Foto der beiden; Jimmys Lächeln darauf war zigmal schöner, als es der Hochzeitsfotograf fünfzehn Jahre später auf den Film bannen sollte. Und weg waren sie gewesen, strampelnd und kichernd – und strahlend, das auch. Vor allem er. Weil er endlich einmal unbefangen neben einem Mädchen saß, das wie ein Wasserfall von den großen Geheimnissen ihres Lebens erzählte. Nein, sie sei nicht im Ballett, und Pferdeposter zierten die Wände ihres Heiligtums auch nicht. Allerdings schlug sie ihre Bücher in Fotos von sonnenbebrillten Schönlingen ein (was Jimmy mit einem Stich ins Herz hörte).
Und er? Was hängte er sich so an die Wand?
Och, eigentlich nichts. Über die Tür seines Zimmers hatte die Mutter ein Kreuz gehängt, das jedes Jahr mit einem frischen, weihwasserbesprengten Palmzweig geschmückt wurde, um ihn vor Krankheit und bösen Gedanken zu schützen. Ansonsten nur nackte Tapete. Und statt sich jetzt etwas auszudenken – er hätte das ja sehr leicht gekonnt –, erzählte er ihr die Wahrheit, die nüchterne Wahrheit: Jesus und nackte Tapete. Sie musste herzlich darüber lachen und bekam dabei Grübchen in den Wangen.
Und Musik? Unbegreiflich, dass das Thema bisher noch nicht aufgekommen war! Was für Musik hörte er gern?
Auch darum hatte er Angst vor Mädchen – oder, in den Worten von Mutters Medizinlexikon: Gynephobie. Weil Mädchen wie besessen die Listen der Ultra Top 40 studierten. Alle Texte kannten sie auswendig – auch die ausländischen – und verstanden sie auch noch, sie jonglierten mit Namen von Bandmitgliedern, als hätte ein Mensch im Leben nichts anderes zu tun. Dann fragten sie dich nach deiner Lieblingsgruppe, und wenn du dummerweise ein aus der Mode gekommenes Idol nanntest, verschloss sich ihr Herz für immer.
Eigentlich verstand Jimmy nichts von Musik. Die einzigen Liedtexte, die er auswendig kannte, stammten aus der Elfuhrmesse sonntags, wo Omas und Nonnen sie inbrünstig sangen. Und von Kinderspielen wie »Der Plumpsack geht um«. Einen Kassettenrekorder hatte er nicht. Ganz zu schweigen von einem Ghettoblaster. Und auch keine Jeans, obwohl er so gern welche gehabt hätte. Seine Mutter fand Jeans vulgär. Und so konnte er seine Hosenbeine auch nicht mit kuligeschriebenen Namen von Rockmusikern schmücken, wie andere, in der Schule angesagtere Jungen es taten. Eine einzige Vinylplatte besaß er, eine Single. Dafür gehörte sie ihm aber ganz allein, bezahlt mit dem Geld aus seinem geschlachteten Sparschwein: »Bravo Eddy!«, ein Lied des Volksbarden Janneman.
»Bravo Eddy?«
»Ja, ein Lied zu Ehren von Eddy Merckx. Hab ich auf dem Flohmarkt gekauft.«
Und wieder die Grübchen in ihren Wangen. Er dachte: Jemand sollte die mit Wasser volllaufen lassen, dann könnt er am Rand Tretboote vermieten .
»Kennst du Doe Maar?«, fragte sie, und er war froh, dass sie nicht näher auf die Dürftigkeit seines Plattenbestands einging. Obwohl sie dafür natürlich, er war schließlich nicht von gestern, sofort die Millionenfrage stellte, die Examensaufgabe, die sie zweifellos jedem Jungen vorlegte, der ihre Freundschaft erwerben wollte.
»Doe Maar? Schon mal gehört, ja«, sagte er, was das Gleiche bedeutete wie »nein, überhaupt nicht«, sich aber nicht ganz so hinterwäldlerisch anhörte.
Na, Doe Maar (»Du Marr«, wie sie den Namen fachkundig nordniederländisch
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