Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
sogar Zviman ist für einen Moment still. Dann schreit er: » Ich bin hier oben! Helft mir, fangt das Biest! Sie stiehlt mein Geld!«
Ich renne die Treppe hinunter und sehe einen Mann, stiernackig, billiger Anzug, mit einem Sturmgewehr, er eilt zu Nelly hinüber, die in einer Blutlache auf den italienischen Fliesen liegt und die Pistole noch hält, die ich ihr gegeben habe.
Der Stiernackige blickt zu mir auf. Er feuert, die Treppe explodiert um mich herum, und ich flüchte.
» Sie hat keine Waffe!«, schreit Zviman. » Erschießt sie!«
Der Stiernackige glaubt sich im Vorteil, stürmt die Treppe herauf und den Gang entlang. Ich stehe in einer Tür, umklammere den Schlagstock fest, und ich dresche ihn auf sein Gewehr. Der Knüppel bricht ihm das Handgelenk, doch er lässt die Waffe nicht los. Ich schlage ihm ins Gesicht und breche ihm die Nase. Er taumelt zurück.
Ich lasse den Schlagstock fallen und packe sein Gewehr. Wir kämpfen um die Waffe. Doch meine Finger sind im Gegensatz zu seinen unversehrt.
Ich bekomme einen Finger an den Abzug, drücke ihm den heißen Lauf an die Brust und schleudere ihn mit einem Fußtritt gegen die Wand.
Das Gewehr zerfetzt ihn. Laut und rot, und noch bevor er tot am Boden liegt, renne ich die Treppe hinunter.
Ich knie mich zu meiner Schwester.
Zu spät. Sie war nur ein paar Minuten auf sich allein gestellt und…
Ich habe sie im Stich gelassen. Hätte ich mich nicht um das Geld gekümmert und darum, sein Geschäft zu ruinieren und mich an ihm zu rächen, wären wir einfach nur geflüchtet…
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstreicht, bis ich langsam die Treppe hinaufgehe.
Zviman ist weg. Eine breite Blutspur zieht sich über die Wand und den Fenstersims. Er hat sich hinaus aufs Dach geschleppt. Ich gehe zum Fenster, doch das Dach, die Straße und der Garten vor dem Haus sind leer. Ich nehme mein Messer und schiebe es wieder in den Stiefel.
In Zvimans Hose finde ich einen Mercedes-Autoschlüssel, und ich hebe meine tote Schwester auf, lege sie in den Wagen und fahre mit dem Mercedes weg. Weg von dem prächtigen Haus, das auf menschlichem Leid errichtet wurde.
Nelly. Ich hab dich im Stich gelassen. Tu mori.
Ich habe meine Lektion gelernt, Sam: Jemanden retten ist wichtiger als zerstören.
70
Sydney, Australien
Sydney ist eine nette Stadt. Der Hafen ist wunderschön, es gibt ausgezeichnete Restaurants, und die Australier sind erstaunlich freundliche Leute. Ich unternehme lange Spaziergänge entlang der Küste, an der vor über zweihundert Jahren die ersten Schiffe mit Sträflingen an Land gingen, eine klägliche menschliche Fracht.
Ich bin selbst eine klägliche menschliche Fracht.
Vom Meer weht eine kräftige Brise herein, und wenn ich mich in den Wind lehne, habe ich das Gefühl zu laufen, obwohl ich stehe.
Ich bin frei und doch eine Gefangene.
Ich bleibe auf meinem Vormittagsspaziergang stehen und beobachte die Touristen, wie sie die berühmte Oper knipsen. Gleich muss ich nach Hause zurückkehren. Meine Tante und mein Onkel werden unruhig, wenn ich zu lange weg bin. Ihr Englisch ist noch nicht besonders, ich bringe es ihnen nach und nach bei. Sie lernen viel, indem sie sich die australischen Seifenopern ansehen, die die rumänischen an Schmalzigkeit sogar übertreffen. Einen Lehrer zu engagieren wäre mir zu riskant. Die Leute reden halt. Und ich muss davon ausgehen, dass Zviman– mit seinem zerschnittenen Penis– mich und meine Familie sucht.
Ein gut gekleideter Mann, ein bisschen jünger als ich, bleibt einen Meter neben mir stehen. Er hat dunkles Haar, ein ruhiges, gefasstes Gesicht und trägt eine graue Hose und ein teuer aussehendes oranges T-Shirt. Kein Businesstyp, eher ein junger Mann, der gern Schauspieler wäre. Er hat ein listiges Lächeln auf den Lippen.
» Eine glatte Million«, sagt er, als würde er mit dem Wind sprechen. Sein Akzent ist britisch und klingt gebildet.
Ich denke mir, er telefoniert mit einem Handy, mit einem kabellosen Headset, oder er will bei mir Eindruck schinden, indem er einfach einen gewaltigen Geldbetrag ausspricht. Er unterscheidet sich nicht so sehr von den anderen Männern, die mich abends ansprechen, wenn ich mich in eine nette Bar setze, um dem Geschwätz von Onkel und Tante zu entgehen.
Also beachte ich ihn nicht weiter.
» Eine glatte Million ist als Kopfgeld auf Sie ausgesetzt. Ein starker Anreiz, Sie zu finden. So wie Sie Nelly gefunden haben. Solche Beträge werden sonst nur für Staatsoberhäupter oder
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