Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
schaute sich rasch in der kleinen, vollgeräumten Wohnung um. In der Küche standen mehrere Flaschen Whisky, außerdem Limonadendosen und Tüten mit Süßigkeiten. Hatte Nic die Mädchen damit geködert? Die Wohnung ließ ihn vor Ekel schaudern.
Er schenkte Nics Mutter einen großzügigen Schuss Whisky ein und schaltete den Fernseher an, um sie abzulenken. Im DVD -Player lag noch ein Kinderfilm mit bunten Blumen und Musik. Jack war zum Kotzen zumute. Rasch wählte er einen Sender, auf dem Nachrichten liefen.
» Hier, Mrs. ten Boom, setzen Sie sich.« Besser, er suchte allein.
Jack ging ganz systematisch vor. Er begann im Schlafzimmer, checkte das Futter jedes einzelnen Kleidungsstücks, jeden Behälter, jeden Karton unter dem Bett. Nic hatte Waffen in der Wohnung versteckt: eine 9-mm-Glock, eine Beretta-Pistole, ein Jagdmesser. Jack legte die Waffen in einen eigenen Karton.
Er zerschnitt die Matratze, zerlegte das Bett und zog das Kopfbrett heraus. Im Schlafzimmerschrank fand er eine teure Kameraausrüstung, und er durchsuchte die zahlreichen Seitentaschen. Nichts.
Panik stieg in ihm hoch.
Er wechselte ins Badezimmer und ließ auch hier keinen Winkel aus. In einer großen Aspirin-Plastikflasche steckten etwa tausend Euro. Er nahm das Geld heraus, ging damit zu Mrs. ten Boom und drückte es ihr in die Hand. Sie betrachtete es überrascht, dann steckte sie es ein.
Er wandte sich der Küche zu. Der Kühlschrank war nur spärlich gefüllt: Bierflaschen, Sandwichfleisch, verschimmelter Käse, ein Senfglas. Angewidert von dem Geruch schloss er die Tür und zog den Kühlschrank von der Wand weg. Der Boden war mit einer Schicht aus Dreck und Staub bedeckt. Er durchwühlte die Schränke und Schubladen, nahm alles heraus, von Geschirrtüchern, Cornflakes-Schachteln bis hin zu harten Getränken. Nichts. Sogar unter dem schmierigen Papier an der Innenseite der Schränke sah er nach. Ohne Erfolg. Verzweifelt begann er die Schrankwände zu überprüfen und klopfte dagegen.
Der obere Schrank klang irgendwie anders.
Er klopfte noch einmal. Dann stieg er herunter, holte ein Messer und begann das Holz an einer Ecke zu bearbeiten.
Er steckte das Messer ein Stück weit hinein, und das Holz klappte zurück: ein verborgenes Scharnier.
In dem Spalt steckte ein großes rotes Buch mit Ledereinband und einem elastischen Band.
Er zog das rote Notizbuch heraus, setzte sich auf den Küchenboden und blätterte es durch. Aus dem Wohnzimmer hörte er ein plätscherndes Geräusch: Mrs. ten Boom schenkte sich Whisky ein, begleitet von einem traurigen Stöhnen.
Auf den ersten Seiten standen nur Zahlen, in zwei Reihen untereinander. Vielleicht ein Code? Oder Kontonummern? Sie waren in sauberer Handschrift eingetragen, offenbar sorgfältig abgeschrieben.
Er blätterte bis zu der Seite, wo die Zahlen aufhörten.
Ein Foto: ein schlanker Mann, den er noch nie gesehen hatte, schon etwas älter, grauer Anzug, neben ihm ein anderer Mann und eine Frau. Die Frau war Asiatin, sah toll aus, etwa Mitte zwanzig. Der andere Mann war groß und kräftig, schwarz, ebenfalls in einem feinen Anzug, mit einem finsteren Gesichtsausdruck. Hinter ihnen stand ein prächtiges Haus mit einer riesigen Veranda und einer gewundenen Auffahrt.
Jack hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren. Gehörten sie etwa zu den Neun Sonnen? Er wusste nicht einmal, ob sich die Bezeichnung auf neun Personen bezog oder ob es einfach ein banaler Deckname war. Unter dem Bild vermerkte dieselbe präzise Handschrift: Erster Tag in der Kinderstube.
In der Kinderstube. Da waren nirgends Kinder zu sehen.
Er blätterte den Rest des Buches durch. Noch mehr Bilder, offenbar am Computer ausgedruckt und eingeklebt. Bei manchen handelte es sich möglicherweise um Familienfotos, auf anderen unterhielten sich Leute an verschiedenen Orten: auf öffentlichen Plätzen, auf dem Bürgersteig, in Bürogebäuden. Keines der Gesichter kam ihm bekannt vor.
Als Nächstes folgten Ausdrucke von E-Mails und Abschriften von Telefongesprächen, in denen es um geheime, illegale Absprachen zwischen konkurrierenden Firmen ging; es wurde Bestechungsgeld geboten, und auch mehr oder weniger versteckte Drohungen wurden ausgesprochen. Unter den E-Mail-Adressen befanden sich einige von Regierungsbehörden in den USA , Japan, Brasilien sowie verschiedenen europäischen und afrikanischen Ländern. Und von ein paar der größten internationalen Konzerne. Es glich einem gigantischen Puzzle der Wirtschaftskriminalität:
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