Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
in normalen gesellschaftlichen Kreisen.
Doch im Kampf gegen die organisierte Kriminalität verstießen wir selbst manchmal gegen das Gesetz. Fagin war ein gutes Beispiel dafür. Erinnert sich jemand an den kurzen Krieg zwischen Russland und seinem kleinen Nachbarn Georgien? Die Russen feuerten nicht nur Gewehrkugeln und Raketen auf Georgien ab, sie manipulierten auch den gesamten Internetzugang im Land. Mit einer massiven Cyber-Attacke auf wichtige Server fügten die Russen vier Millionen Menschen online eine feindliche Übernahme zu. Wenn man in Georgien die Websites von CNN oder BBC aufrief, bekam man stattdessen russische Propaganda geliefert. Genauso unmöglich war es, Geld von georgischen Banken abzuheben. Wollte man jemandem eine E-Mail schicken, wartete man vergeblich darauf, dass sie beim Empfänger eintraf. Die Cyber-Attacke, so behaupteten die Russen, wurde nicht von Hackern der Regierung durchgeführt, sondern von patriotischen Russen, die völlig unabhängig versuchten, ihrem Land in seinem Kampf zu helfen. Nach dem Krieg fand die NATO zusammen mit den Georgiern heraus, dass einige der Hacker, die diesen Internetkrieg geführt hatten, berüchtigten russischen Verbrecherringen angehörten. Die Regierung brauchte sich nicht selbst die Hände schmutzig zu machen und hielt dafür ihre schützende Hand über diese Leute.
Die besten Hacker stehen nicht immer auf der Gehaltsliste einer Regierungsbehörde. Oft ist es für eine Behörde ganz praktisch, keine enge Verbindung zu ihren Hackern zu haben, wenn sie bei ihren Aktivitäten Gesetze und Verträge bricht.
Für die CIA war Fagin ein solcher Mann, der heikle Jobs durchführte und den man zugleich immer verleugnen konnte. Er und seine digitalen Oliver Twists. Wenn wir irgendwo illegal Zugang brauchten, um uns etwas anzueignen, und niemand auf die Idee kommen durfte, dass die CIA dahintersteckte, traten Special Projects und Fagin in Aktion, um die Sache still und leise zu erledigen.
» Sam, du arbeitest nicht mehr für Special Projects«, sagte er. » Hau ab.«
» Ich bin freiberuflich tätig, so wie du«, erwiderte ich.
» Wirklich? Wirklich?« Fagins Lieblingswort, meist mit einem höhnischen Grinsen ausgesprochen. Ich hatte einmal mitgezählt, wie oft Fagin im Verlauf einer Sitzung Wirklich? sagte: Bei fünfzig hörte ich auf.
» Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
» Wirklich? Ich sag’s noch einmal: raus.«
» Ich hab wenig Zeit. Sag mir, was ich wissen will, oder ich erzähle den Nordkoreanern von dir und deiner Crew. Und den Russen. Und den Chinesen. Und den Iranern.« Vielen der Länder, mit denen die USA Probleme hatten, bereitete Fagin mit seinem Hacker-Team großen Ärger. Sogar manchen befreundeten Ländern. Auch in Frankreich, Brasilien und Japan haben einige Leute allen Grund, Fagin zu hassen. Sie wissen es bloß nicht.
» Das wagst du nicht.«
» Das Leben meines Kindes ist in Gefahr, Fagin, deshalb würde ich es tun. Setz dich. Wir reden.«
Er setzte sich. Er sah immer noch wie der Computerlehrer aus, der er an einer New Yorker Highschool gewesen war. In seiner Wohnung hing eine Auszeichnung als » Lehrer des Jahres«, die er vor Jahren bekommen hatte. Natürlich. Fagin hatte es stets großartig verstanden, junge Talente zu fördern und zu ermutigen. Leider ermutigte er sie auch dazu, Banken und Regierungsdatenbanken zu hacken, und das meistens nur zum Spaß. Special Projects hatte ihn angeheuert, nachdem er, ohne es zu wissen, eine Tarnfirma der CIA gehackt hatte. Die Agency bewahrte ihn vor einer Gefängnisstrafe und übertrug ihm konstruktivere Aufgaben. Offiziell war er als Softwaredesigner tätig.
» Das Leben deines Kindes? Trägst du da nicht ein bisschen dick auf?«
Er wusste nichts über mein Privatleben– zumindest soweit mir bekannt war.
» Ich suche einen jungen Hacker chinesischer Abstammung, der möglicherweise hier in New York aufgewachsen ist.«
» Oh, dann kommen ja nicht mehr viele in Frage.« Er verdrehte die Augen. » Wirklich. Willst du die rechte oder die linke Seite des Telefonbuchs?«
» Kennst du einen Hacker, der in den letzten zwei Jahren verschwunden ist?«
» Nein.« Seine verschränkten Arme spannten sich einen Moment lang an. Ich musste ganz präzise Fragen stellen, um eine brauchbare Antwort zu erhalten. Ich kannte Fagin: Für ihn stellten Wissen und Intelligenz die einzigen gültigen Währungen dar. Wirklich.
Ich zog mein Handy hervor, ohne ein Wort zu sagen. Er sollte es bloß sehen.
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