Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
weiter aus dem Fenster. Ich aß mein Sushi. Fisch, Reis und Wasabi, ohne etwas zu schmecken. Der Regen hatte nachgelassen, doch der Himmel war immer noch grau. Mrs. Ming oder ihr Sohn hatten sich bisher nicht beim Haus blicken lassen. Ich wollte ihn mir nicht als Jack Ming vorstellen. Jack Ming, das klang nach einem meiner vielen ehemaligen Mitschüler in den vierzehn Ländern, in denen ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, von meinen Eltern im Laufe ihrer Arbeit für eine Hilfsorganisation rund um die Welt geschleppt. Sie waren gute Leute, doch die Welt zu verbessern interessierte sie mehr, als sich länger als fünf Minuten mit ihren eigenen Kindern zu beschäftigen. Ich liebte sie, und sie schienen mich ebenfalls zu lieben, mehr gab es zu dem Thema nicht zu sagen. Bestimmt hätten sich Psychologen mit Freude auf meine Kindheit gestürzt und einen Bezug zu meinem gestohlenen Kind hergestellt. Doch es ging gar nicht nur darum, dass es mein Sohn war. Mit keinem Kind sollte so etwas passieren. Es gibt gewisse Prinzipien. Man muss sich einfach wehren.
Leonie setzte sich auf den Hocker neben mir. » Sie haben ihn gefunden.«
» Ja.«
» Ohne Datenbank.« Es klang so, als hätte ich irgendwie geschummelt.
» Ja.«
Sie klappte ihren Laptop auf. » Und was jetzt? Wir sitzen hier und warten, bis er aufkreuzt…«– ihre Stimme wurde leiser–, » und dann erschießen Sie ihn mitten auf der Straße?«
» Nein.« Ich schluckte den letzten Bissen Sushi hinunter. Das Essen war kein Vergnügen gewesen, es hatte lediglich der Sättigung gedient. Wenn man auf jemanden wartete, um ihn zu töten, fühlte man sich selbst innerlich wie tot.
» Wir müssen uns an das halten, was Anna gesagt hat«, erinnerte sie mich wieder einmal, und ich fragte mich, was sie tun würde, wenn ich ein Essstäbchen nahm und es ihr ins Ohr stieß.
» Ich habe bis jetzt meinen Job getan und einen großen Teil des Ihren noch dazu«, erwiderte ich. » Sie verlieren immer mehr Ihr Mitspracherecht.«
» Okay, Sam. Sie hatten Quellen, die ich nicht hatte. Ich kann Ihnen aber auch etwas über Jack Ming erzählen, das Sie noch nicht wissen. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass er seine Mutter besuchen wird.«
» Warum nicht?«
» Sie gibt ihm die Schuld am Tod seines Vaters.«
Ich sah sie an. » Woher wissen Sie das?«
» Ich habe ein Netzwerk von Namen rund um Jack Ming aufgebaut«, erläuterte sie. » Er besuchte tatsächlich die New York University, also hab ich mich um die Leute gekümmert, mit denen er damals auf Facebook Kontakt hatte. Ich hab nach Leuten gesucht, bei denen er sich eventuell verstecken könnte.«
Ich fragte nicht, wie sie zu ihren Informationen gekommen war. Sie hatte entweder ihre geschickten, vom Rauchen gelb verfärbten Finger in die richtigen Datenbanken gesteckt oder ein paar Leute bezahlt, die es für sie taten. » Und?«
» Ein Freund von ihm hatte etwas über Jacks Situation gepostet. Sein Vater starb offenbar an einem Herzinfarkt, als er erfuhr, dass Jack vom FBI gesucht wurde, weil er Kopierer gehackt und Informationen von Anwaltskanzleien und Softwarefirmen gestohlen hatte. Er ist hier in dem Haus gestorben. Direkt vor Jacks Augen.«
» Sein Freund hat darüber geschrieben?« Also wirklich. Die Leute setzen heute Dinge ins Internet, die sie früher nicht mal ihren Eltern verraten hätten. Ein paar Geheimnisse darf man ruhig haben, finde ich. Ich gebe gern zu, ich verstehe nicht recht, was Twitter und Facebook so unverzichtbar macht, warum man jede Kleinigkeit in einer Talkshow ausbreiten muss oder jeden Zeitungsartikel postet, der einem nur irgendwie interessant vorkommt. Ich habe mich einmal fünf Minuten in Twitter umgesehen und fühlte mich wie in einem Pokerspiel, in dem jeder sofort seine Karten auf den Tisch legt. Wahrscheinlich kann man als ehemaliger Spion nicht aus seiner Haut und hält es für notwendig, gewisse Gedanken und Geheimnisse zu bewahren. Doch Jack Ming war ein Kind unserer Zeit und hatte seine elektronischen Brotkrumen für seine Freunde verstreut.
Es gibt immer eine Spur, hatte Leonie gesagt, und jetzt hatte sie sie entdeckt.
» Sein Freund hat auch etwas über Jacks Mutter geschrieben.« Sie klappte den Laptop auf und drehte ihn zu mir, damit ich es lesen konnte:
Ich weiß, was Trauer ist: Ich habe meine Großeltern verloren, als ich noch klein war, und letztes Jahr ist mein Hund gestorben. Der Tod gehört zum Leben. Doch was ich nicht verstehe, ist Schuld. Der Vater meines
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