Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
Freundes Jack starb an dem Schock über etwas, das Jack getan haben soll, obwohl es gar nicht bewiesen ist. Und selbst wenn Jack es getan hätte – kann man ihm dann die Schuld am Tod seines Vaters geben? Welche Mutter sagt so etwas zu ihrem Sohn?
Ich bin jedenfalls dankbar für meine Mutter.
Oh Gott, dachte ich. Wie haben wir eigentlich gelebt, bevor es Blogs gab? Hätte irgendjemand so etwas als Leserbrief an eine Zeitung geschickt oder sich auf eine Soapbox im Park gestellt und eine Rede über die Privatangelegenheiten einer anderen Familie gehalten? Jack musste sich nach dem Tod seines Vaters diesem Freund anvertraut haben.
Ich wandte meinen Blick wieder dem Haus zu, in dem Mrs. Ming wohnte. Der Portier blickte in den Regen hinaus. » Dann stehen sich Jack und Mama Ming also nicht mehr nahe.«
» Nein, aber er ist verzweifelt. Richtig verzweifelt. Und…«
» Was und?«
» Wenn er sich an die CIA wendet, dann hat er vor zu verschwinden. Vielleicht will er seine Mutter überreden, mitzukommen. Oder er besucht sie noch einmal, um sich zu verabschieden, um Lebewohl zu sagen.«
» Keine Ahnung.« Ich wollte das alles gar nicht über Jack Ming wissen. Ich wollte ihn nicht als Person kennenlernen. Ich wollte nur wissen, wo er sich in einem bestimmten Moment befand und wo ich ihn töten konnte, ohne gefasst zu werden. Ich schloss die Augen. Novem Soles machte mich zu einem Monster, wie Dr. Frankenstein es aus Leichenteilen erschaffen und mit Elektrizität zum Leben erweckt hatte. Ich wusste nicht, was ich sein würde, wenn ich vom Labortisch aufstand: hoffentlich ein Vater, der sein Kind wiederhatte.
Doch von Jack Mings Problemen wollte ich nichts wissen. Seine Probleme würden sich sehr bald auflösen.
Jack Mings Dad war also vor seinen Augen gestorben. Ich musste an Danny denken. Meinen Bruder, nicht meinen Sohn. Er war auf schrecklich erniedrigende Weise gestorben, nachdem er als Teil eines Hilfsteams Afghanistan erreicht hatte. In seinem Wunsch, Menschen zu helfen, war er zusammen mit einem Collegefreund in die Berge jenseits von Kandahar vorgedrungen und wurde gefasst. Drei Wochen lang hörte man nichts mehr von ihm, dann erschien ein Video auf YouTube : Mein Bruder Danny auf einem Lehmboden kniend, umgeben von vermummten Killern, die ihn zwangen, mit zitternder Stimme irgendwelchen Unsinn von sich zu geben, bevor sie ihm vor laufender Kamera den Kopf abschnitten. Danach schnitten sie auch seinem Freund die Kehle durch.
Schweißt ein Mord eine Familie zusammen, oder zerbricht sie daran? Ich glaube, das kann man nicht so allgemein beantworten. Es kommt darauf an, wie eng die Beziehungen vorher waren. Doch eine solche Exekution ist noch einmal etwas anderes als ein » normaler« Mord. Wenn der eigene Bruder mit einem langen Messer enthauptet wird, nur weil er Menschen helfen wollte, und jeder hier in der freien Welt kann seine letzten Augenblicke mitverfolgen dank des allgegenwärtigen Internets, dann wird der schlimmste Albtraum einer Familie öffentlich ausgebreitet und zur Unterhaltung für die Massen herabgewürdigt. Man hat kaum eine Chance, es irgendwie zu verarbeiten: Der Horror ist nur ein paar Mausklicks entfernt.
Soll man es für möglich halten, dass es Leute gab, die mir den Link zu dem Video mailten? Genau das ist passiert. Ich weiß nicht, warum sie’s getan haben, welche Grausamkeit sie dazu getrieben hat, aber sie haben es getan.
» Glauben Sie, er könnte sich an einen dieser alten Freunde wenden?«, fragte ich.
» Er wird immer noch vom FBI gesucht. Ich weiß nicht, ob ihn jemand mit offenen Armen aufnimmt, das wäre schließlich Beihilfe zu einem Verbrechen.«
» Diese Anklagen wären nichtig, wenn er wirklich mit der CIA spricht«, erwiderte ich. » Das werden sie ihm garantieren.«
» Aber seine Mutter würde ihn doch wohl nicht verpfeifen.«
» Stimmt. Sie ist eine Karrierediplomatin. Sie hätte eine Menge zu verlieren, falls er wieder auftaucht. Das könnte ziemlich peinlich für sie werden.«
» Na schön. Und was machen wir jetzt? Sollen wir den ganzen Tag warten und uns Sushi reinziehen wie Privatdetektive im Observationseinsatz? Womöglich war er schon hier und ist längst über alle Berge.« Ich hörte eine gewisse Verzweiflung in ihrer Stimme.
» Nein«, antwortete ich. » Wir gehen rein. Wenn er da ist, dann war’s das, und wenn nicht, dann finden wir raus, wo er steckt.«
Eine Limousine hielt am Straßenrand. Ein uniformierter Mann von kräftiger Statur stieg aus
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