Die letzte Nacht der Unschuld
Stimme klang scharf wie zerbrochenes Glas. Colleen fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Eine eiskalte Welle der Panik schwappte über sie. Der angeborene Instinkt, ihr Kind zu schützen, erwachte und brachte sie dazu, Cristiano trotz ihrer Erschöpfung geradewegs in die Augen zu sehen. „Du hast kein Recht, einfach hier aufzutauchen und …“
„Rede du nicht von Rechten“, sagte er mit zusammengepressten Lippen. Ihm war anzusehen, wie eisern er um seine Beherrschung kämpfte. „Warum hast du es mir nicht gesagt, Colleen?“
„Ich wollte es ja.“ Sie hatte nur daran denken können, ihren Sohn zu beschützen. Doch Cristianos unerwartetes Erscheinen drohte nun, die unterdrückten Gefühle für diesen Mann wieder zum Vorschein zu bringen. Sie war entsetzt über die Macht der Sehnsucht, mit der sie sich wünschte, sich ihm einfach in die Arme zu werfen und sich von ihm küssen zu lassen, bis sie alles um sich herum vergaß. Mit geballten Fäusten wich sie zurück und schaffte so viel Abstand zwischen ihnen wie nur möglich.
„Wann? Der Junge ist drei Jahre alt, Herrgott!“
„Ich habe es versucht …“
Alexander gab einen leisen Laut von sich. Er schien aufzuwachen, und sofort ging die kleine Hand zum Tropf und versuchte, die Nadel aus der Armbeuge zu ziehen. Cristiano musste daran denken, dass er im Krankenbett nach dem Unfall genau das Gleiche getan hatte. Jetzt allerdings spürte er den Schmerz noch schlimmer, weil es sein Sohn war, der sich quälte, und er nichts dagegen unternehmen konnte.
Colleen war sofort an das Bett getreten, strich dem Jungen das dunkle Haar aus der Stirn und murmelte beruhigende Worte. Das schwache Licht betonte die Blässe ihres ungeschminkten Gesichts, und doch lag in diesem Moment eine so unglaubliche Schönheit in ihren Zügen, dass Cristiano nach Atem rang.
Als sie aufschaute, änderte sich ihre Miene. Sie sah aus wie ein verängstigtes Tier, das man in die Enge getrieben hatte. „Bitte, Cristiano, ich …“
„Mummy …“
Sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen in dem Bett, doch die Panik in ihren Augen hatte Cristiano alles gesagt, was er wissen musste. Sie wollte ihn nicht hier haben. So viel also zu der Idee, sie beschützend in die Arme zu nehmen, dachte er bitter. Den einzigen Schutz, den sie sich wünschte, war Schutz vor ihm .
„Ich gehe“, meinte er rau und bewegte sich in Richtung Tür. „Unter der Bedingung, dass wir später reden.“
Sie wollte widersprechen, er konnte es sehen, doch dann sagte sie nur leise: „Meine Freundin Lizzie kommt nachher. Sie kann dann eine Weile bei ihm bleiben. Aber nicht lange.“
„Eine Stunde.“
Sie nickte mit gesenktem Blick. „Gut, eine Stunde.“
In der Schwesternstation unterhielt sich die platinblonde Krankenschwester mit einer Kollegin. Beide Frauen schauten auf, als Cristiano auf dem Gang erschien.
„Sie wollen schon gehen?“, fragte die Blondine und betrachtete ihn eingehend unter den inzwischen geschminkten Wimpern.
„Im Gegenteil“, meinte er mit einem schmalen Lächeln. „Ich habe sogar vor, länger zu bleiben. Könnten die Damen mir vielleicht ein Hotel in der Nähe empfehlen?“
Colleen starrte entsetzt in den Spiegel über dem Becken im Besucherwaschraum. Sie sah aus wie aus einem Horrorfilm – mit grauer Haut, hohlen Wangen und fettigen Haaren. Sie sollte diejenige sein, die in einem Krankenbett lag, nicht Alexander.
Die Medikamente und nur wenige Tage ausgiebigen Schlafs hatten Wunder bei Alexander bewirkt. Sie sollte vor Glück übersprudeln, und das tat sie auch. Es war nur so, dass sie mit seiner wiedergefundenen Energie in ihrem erschöpften Zustand nicht sehr gut umgehen konnte. Neugierig auf die unbekannte Umgebung und gelangweilt von dem langen Liegen, wurde es immer schwieriger, ihn davon abzuhalten, sich den Tropf aus dem Arm zu ziehen und herumzurennen.
Colleen war erleichtert, als Lizzie mit einem großen Buch über Rennautos erschien. Die glänzenden bunten Bilder würden Alexander eine Weile fesseln – und Colleens Nerven eine Erholungspause gönnen. Allerdings hieß das auch, dass sie sich Cristiano stellen musste.
Vielleicht sollte sie endlich aus diesem schwarzen Kleid herauskommen, das sie trug, seit sie vom Chalet abgefahren war. Es erinnerte inzwischen an einen zerknitterten Putzlappen. Und vielleicht sollte sie auch versuchen, etwas gegen die dunklen Augenringe zu unternehmen … doch wozu? Sie trafen sich, um über Alexander zu reden, mehr nicht.
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