Die letzte Nacht
ein notwendiges Minimum zu reduzieren, griff sie schließlich zum Handy. Auf dem Display leuchtete der Hinweis auf eine eingegangene Nachricht. Anna las sie eilig.
LIEBE ANNA, WIE GEHT ES DIR? WENN MAMA DANACH IST, ESSEN WIR BEI UNS IN DEN BERGEN ZU WEIHNACHTEN? BIS BALD, LILA :-)
Eine SMS von ihrer Schwester, die sonntags früh aufstand. Anna schüttelte den Kopf. Sie schien ihr aus einer anderen Welt zu kommen. Sie löschte die Nachricht und versuchte Jean anzurufen, Francesca, Filippo, Contini … in der Hoffnung, einer von ihnen würde abnehmen. Oder hatten sie sie vergessen?
»Sie werden in der Nähe sein, oder?«
»Sie sind nicht da!«
»Nicht mal Francesca?«
»Ich sag doch, es ist niemand da! Ich habe nur dieses Auto vorbeifahren sehen.«
»Und bist du sicher, dass Salviati drinsaß?«
»Vielleicht war er es. Auf dem Rücksitz. Ich weiß es nicht, ich erinnere mich nicht mehr …«
Contini seufzte und nahm das Handy vom rechten ans linke Ohr. Man kam keinen Augenblick zum Verschnaufen. Gerade hatte er die Angelegenheit in Massagno geregelt, da fiel ihm Anna Corti mit dem gescheiterten Überfall ins Haus. Denn das war es, worum es ging. Irgendetwas an dem Plan war offensichtlich schiefgegangen.
»Aber wo bist du?«, fragte Anna. »Was machst du gerade?«
»Ich bin in Massagno. Es ist jetzt alles ganz ruhig hier.«
Zum Glück war Marelli nicht ernsthaft verletzt: höchstens eine Gehirnerschütterung. Es hätte schlimmer kommen können. Lina hatte ihn ins Krankenhaus begleitet. Offizielle Version: Er war in der Badewanne ausgerutscht. Anita Pedrini war wegen der Kampfgeräusche ein wenig besorgt gewesen. Aber Contini hatte die richtigen Worte gefunden, um sie zu beruhigen.
»Aber … aber Lina ist …«
»Lina ist frei. Jetzt müssen wir an euch denken.«
Warum gingen Jean, Francesca und Filippo nicht ans Telefon? Und vor allem, wo waren sie? Um diese Uhrzeit hätten sie alle zusammen im Audi sitzen müssen. Stattdessen war Anna allein zurückgeblieben.
Was war in der letzten halben Stunde geschehen? Anna wusste es nicht.
»Ich habe die Straße beobachtet und nichts gesehen. Es ist niemand vorbeigekommen, außer diesem Mercedes.«
»Vier Leute, hast du gesagt?«
»Der eine hinten könnte Jean gewesen sein. Er sah ein bisschen so aus, aber auch irgendwie anders. Ich dachte, es liegt vielleicht an der Schminke.«
»Vielleicht.«
Contini telefonierte vom Balkon aus. Malaspina hatte Elton gefesselt, ihn in eines der Schlafzimmer gebracht und bewachte ihn nun. Da Lina und Marelli frei waren, hatte Contini vorgehabt, ihn laufen zu lassen … falls es Jean gelingen würde, an das Geld zu kommen.
Aber wie es schien, war der alte Dieb gescheitert.
Anna Corti war allein und verängstigt, Francesca und Filippo waren verschwunden, Jean war (vielleicht) gesehen worden, wie er mit drei Unbekannten im Auto davonfuhr. Contini befürchtete, dass Forster seine Hände im Spiel hatte. Dann blieb also nur eins …
»Es ist besser, du verschwindest von dort.«
»Na, hör mal«, protestierte Anna. »vielleicht sind sie noch in der Bank!«
»Das halte ich für ausgeschlossen«, Contini sprach leise. »Dann wären sie ans Telefon gegangen.«
»Aber …«
»Wenn sie nicht ans Telefon gehen, heißt das, dass etwas schiefgelaufen ist. In dem Fall ist es besser, du bleibst nicht dort.«
Contini verabredete sich mit ihr um halb neun in Bellinzona. Dann ging er zu Malaspina.
Marellis Wohnung war ziemlich groß: zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Esszimmer und eine Küche. Elton hatte das Esszimmerzu seinem Hauptquartier umfunktioniert, ein Feldbett und seinen Computer mitgebracht. Nun befand er sich dort, an den Heizkörper gefesselt. Malaspina betrachtete ihn, während er eine Tasse Kaffee trank.
Contini wartete ein paar Sekunden, bevor er zu sprechen begann. Dann sagte er:
»Und nun?«
»Bitte?«, sagte Elton.
»Ich will die ganze Geschichte hören.«
»Bitte?«
»Hör mal, Elton, wir könnten jetzt auch die Polizei holen. Ich würde sagen, eine Anzeige wegen versuchten Mordes …«
»Das glaubst du doch selbst nicht!«, erwiderte Elton. »Dann kämt ihr aber selbst ganz schön in Schwierigkeiten!«
»Willst du’s riskieren? Willst du uns wirklich auf die Probe stellen?«
Schweigen. Dann fragte Elton:
»Was wollt ihr von mir?«
»Wir wollen die ganze Geschichte hören«, antwortete Contini. »Also los, was geht in Bellinzona vor sich?«
Salviati sprach nicht. Wichtig war, die Gedanken zu
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