Die letzte Nacht
Contini hatte das Gefühl, dass die Situation allmählich seiner Kontrolle entglitt, dass es noch einen Missklang gab. Irgendeine Glocke musste noch ein zweites Mal schlagen … Aber was hatten die Glocken damit zu tun?
Contini stand auf und ging auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Er war zu oft beim alten Giona zu Besuch. Er fing an, wie er zu denken. Statt sich über Salviati und Forster Gedanken zu machen und darüber, wie er Elton zum Sprechen bringen konnte, dachte er an Glockenschläge, an die Worte eines Eremiten, der niemals auch nur einen Fuß in eine Bank gesetzt hatte!
Sollten sie wirklich die Polizei rufen?
Nein, ausgeschlossen. Sie waren in das Haus eines Bankdirektors eingedrungen, hatten ihm ein Betäubungsmittel verabreicht, Salviati hatte sich unter falschem Namen Zutritt zu einer Bank verschafft, er hatte zehn Millionen Franken an sich genommen – oder versucht, sie an sich zu nehmen … Keine Polizei. Zum Glück hatten sie Elton außer Gefecht setzen können, ohne allzu viel Radau zu machen.
In Massagno war alles still. Erst seit ein paar Minuten tauchten hier und dort ein paar Passanten auf der Straße auf. An den Straßenecken standen die Zeitungskästen mit den kostenlosen Sonntagsblättern, frisch aus der Presse und voller Skandale. Der Himmel lastete schwer und düster über den Häusern, er sah aus wie Asphalt.
Contini gingen unzählige Fragen durch den Kopf. Wie war es Forster gelungen, derart genau ein Eindringen in die Junker-Bank zu planen? Wie sah Jeans Alternativplan aus? Wo waren die Millionen gelandet? Und vor allem, wo waren Jean und Filippo in diesem Augenblick?
Die letzte Frage war nicht schwer zu beantworten. Er wollte gerade Filippo Cortis Nummer heraussuchen und ihn anrufen, als sein Handy klingelte und Filippos Nummer auf dem Display erschien.
»Und?«, fragte Contini.
»Alles in Ordnung«, erwiderte Salviati. »Filippo hat gute Arbeit geleistet.«
Contini seufzte erleichtert.
»Jean! Hör mal, du musst mir ein paar Sachen erklären.«
»Später, später.«
»Gut, aber …«
»Nicht am Telefon. Filippo meinte, es würde ein Treffen geben.«
»Aha!«
»Bei ihm und Anna zu Hause. Ich werde dir alles erklären.«
»Aber wann …«
»Francesca ist schon dort. Auch wir sind in einer Viertelstunde da. Und du?«
»Ich bin hier mit Malaspina und Elton. Lina ist mit Marelli ins Krankenhaus gegangen.«
»Geht’s ihnen gut?«
»Ihm nicht so. Er hat was auf den Kopf bekommen. Aber es hätte schlimmer ausgehen können. Hör mal, wer waren die drei, die dich mitgenommen haben? Leute von Forster?«
»Ich glaube schon.«
»Und du hast dich befreien können?«
»Vorerst ja. Zum Glück ist Lina nicht mehr in Forsters Gewalt, so hat er nicht mehr viel zu melden.«
»Wie bist du den dreien entkommen?«
»Fragen klären wir später, Elia. Aber was ist das für ein Lärm?«
»Glocken«, Contini deutete ein Lächeln an. »Hier in Massagno läuten die Glocken.«
»Es ist Sonntag … und alles ist in Ordnung! Dann sehen wir uns also in Bellinzona?«
Contini seufzte und verdrängte die Fragen.
»In Ordnung. In einer halben Stunde.«
Er legte das Handy auf die Brüstung und nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette. Letztendlich war der Alternativplan geglückt. Lina war frei, Jean war den drei Männern, die ihn mitgenommen hatten, entwischt. Aber … die Glocken von Massagno läuteten noch immer. Contini musste wieder an den alten Giona denken.
Eine Melodie, ein Klang, der sich im Raum ausdehnt. Aber dahinter verbirgt sich eine Reihe bestimmter Noten. Jedem Schlag entspricht ein zweiter Schlag. Das ist immer so. Contini & Salviati, Contini & Francesca. Aber auch Lina & Matteo. Und sogar Salviati & Forster. Jedem Schlag folgt ein zweiter …
Contini ließ die Asche vom Balkon rieseln. Er war ganz dicht dran … und in dem Augenblick, als die Glocken verstummten, kam ihm die Idee. Es war eine Möglichkeit, die Dinge zu betrachten. Es war eine Erklärung. Aber vor allem war es eine Bedrohung. Contini dachte an Salviatis Vorgehen, an Filippos Eingreifen und an ihre Flucht. Er dachte an die Operation Junker-Bank. Er stellte sich die Vergangenheit und die Zukunft vor, bis er wieder zu sich kam und die Zigarette ausdrückte. Auf jeden Schlag folgt ein zweiter. Genau so. Bis zum Letzten.
Wenn er recht hatte, war die Situation alles andere als unter Kontrolle. Im Gegenteil, sie standen kurz vor dem Scheitern.
Und sie waren in Gefahr, sie waren alle in
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