Die letzte Nacht
Gefahr.
Anna und Francesca tranken Tee. Sie hatten das Bedürfnis, zu den Gewohnheiten und vor allem zu den Gedanken des alltäglichen Lebens zurückzukehren. In einem Wohnzimmer zu sitzen, umgeben von Blumen und Bücherregalen. An den Wänden Drucke von abstrakten Gemälden und Filmplakate. Ein Mozart-Konzert im Hintergrund, eine Packung Kekse auf dem Tischchen.
Danach hatten sie Bedürfnis. Familienfotos auf der Anrichte und das aufgeschlagene Fernsehprogramm auf dem Sofa. Sie saßen in großen cremefarbenen Sesseln einander gegenüber und wussten nicht, wie sie sich all die Geschehnisse in Erinnerung rufen sollten. Deshalb verharrten sie anfangs in Schweigen. Sie kannten die Details nicht, aber am Ende war alles gut gegangen. Filippo und Jean würden bald da sein, ebenso Contini. Lina ging es gut. Forster hatte nichts mehr gegen sie in der Hand.
Sie hätten entspannen können. Warum taten sie es nicht?
»Wir sind noch zu aufgeregt«, sagte Anna. »Das ist normal.«
»Ein Bankraub passiert schließlich nicht alle Tage …«
Anna lächelte und schüttelte den Kopf.
»Wir sind verrückt gewesen. Allesamt. Denk nur, was hätte passieren können.«
»Es ist etwas passiert«, murmelte Francesca.
»Das stimmt. Zum Glück hat Jean mit allem gerechnet … und zum Glück hatte dein Mann diese Idee, um Jeans Tochter zu befreien.«
Francesca wollte sich Zucker für den Tee nehmen, aber sie verschüttete etwas neben der Tasse.
»Wie zerstreut ich bin. Aber das bringt Glück, stimmt’s? Oder war es Salz?«
»Ich glaube, es war Salz«, Anna lächelte erneut. »Aber wenn du ein bisschen Zucker über die Schulter werfen willst, kann’s nicht schaden …«
Francesca war die Jüngere der beiden. Dennoch hatte sie die ganze Geschichte besser weggesteckt. Anna versuchte es zu verbergen, aber sie hatte das Gefühl, vollkommen überdreht zu sein. Sie hätte am liebsten geschrien, sich auf den Wohnzimmerteppich geworfen. Sie hätte der Angst gerne Luft gemacht, die sich in ihr angestaut hatte. Es gelang ihr nicht, sich davon zu befreien. So, als wenn man vollkommen durchgefroren in die Nähe einer Heizung kommt und meint, kein Gefühl mehr zu haben.
»Ich freue mich für Jean«, sagte Anna. »Er hatte das alles wirklich nicht verdient.«
»Er ist ein guter Kerl. Magst du Zucker?«
»Danke, ich hab schon.«
Vielleicht begriff Francesca nicht. Vielleicht war sie zu jung. Anna sah, wie sie einen Schluck Tee trank und dann den Kopf hob, um eine Frage zu stellen.
»Kommt Lina auch her?«
»Ja«, Anna wiegte den Kopf hin und her. »Ich glaube es zumindest.«
Alles war innerhalb weniger Stunden geschehen. Aber Anna war so müde, als hätte sie drei Nächte nicht geschlafen. Bei jedem Geräusch fuhr sie auf. Jedes Rascheln, jedes Ticken der Uhr war ein Zeichen in einer geheimnisvollen Sprache. Als sei die Operation Junker-Bank noch nicht zu Ende. Als wären sie nicht zwei Frauen, die im Wohnzimmer zusammensaßen und sich unterhielten, sondern die Protagonistinnen eines Horrorfilms, die auf ihren Mörder warten.
Salviati hatte schon viele erwachsene Männer weinen sehen. In seinem alten Metier kam es nicht selten vor, dass das Unglück über einen hereinbrach. Außerdem verschwand im Gefängnis jegliche Form vermeintlicher Haltung. Er hatte Leute gesehen, die sich selbst verfluchten, die in vollkommene Lethargie verfielen oder ohne sichtbaren Grund in Tränen ausbrachen.
Aber so etwas hatte er noch nicht erlebt. Ein Weinen, das nicht wie ein Unwetter hereinbricht, sondern durch den Boden hereinsickert. Ein langsames, unerbittliches Ereignis. Filippo Corti fing an zu weinen, wenige hundert Meter von seiner Wohnung entfernt.
Anfangs bemerkte Salviati es nicht einmal. Er hatte sich abgeschminkt, die Kontaktlinsen herausgenommen und alles entfernt, was sein Gesicht verfremdet hatte. Er sah auf die Straße und ging im Kopf die Erklärungen durch, die er den andern geben würde. Er konnte es kaum erwarten, seine Tochter in die Arme zu schließen, es war Jahre her, dass er sie das letzte Mal umarmt hatte. Er wollte Anna und Francesca wiedersehen, Elia die Hand schütteln und friedlich eine Pfeife rauchen …
Salviatis Gedankenfluss wurde von einem Schluchzen unterbrochen. Dann hielt Filippo den Wagen an, beugte den Kopf über das Lenkrad und weinte leise vor sich hin. Salviati sah die Tränen von seinem Bart tropfen. Er wandte den Blick ab und fragte:
»Was hast du?«
»Er wird uns umbringen«, antwortete Filippo, noch immer
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