Die letzte Nacht
nicht. Sie sollten nicht mich fragen!«
»Wen dann? Ich will wissen, wie es Lina geht. Sonst …«
»Es geht ihr gut, es geht ihr gut«, unterbrach ihn Marelli, »… also, ich verspreche Ihnen, dass Sie morgen mit ihr reden können, in Ordnung?«
»Hör zu, Marelli, das ist die letzte Gelegenheit!«
»Ja, natürlich! Und was unser Geschäft betrifft …«
«Willst du etwa am Telefon darüber sprechen?«
»Nein, natürlich nicht.« Marelli hüstelte, »aber ich habe Ihnen eine Liste mit allen Filialen der Gesellschaft zusammengestellt, um die sich unser Geschäft dreht. Das wird sicherlich hilfreich sein, um …«
»Zuerst will ich meine Tochter sprechen.«
Salviati beendete das Telefonat. Seine Sorge wuchs. Obwohl, das musste er zugeben, die Gelegenheit günstig schien. Vor allem der Umstand, dass man eine Nebenfiliale ins Visier nehmen und trotzdem sicher sein konnte, dort zehn Millionen zu finden. Allerdings musste zuvor eine Reihe von Punkten geklärt werden …
Aber was tue ich da? Er merkte, dass er sich innerlich bereits mit der Idee des Überfalls anfreundete. Das war das Übelste an Forsters Niederträchtigkeit. Salviati hatte Jahre gebraucht, um sich aus dem Umfeld zurückzuziehen und sich einen Broterwerb zu suchen. Und nun? Auch wenn alles gut ging, wusste er nicht, ob er am Ende den Mut finden würde, zur alten Madame Augustine zurückzukehren.
»Ich bin sicher«, erklärte Renzo Malaspina, »dass Marelli ein Einzelgänger ist.«
»Auf jeden Fall ist er kein Profi«, meinte Contini.
»Das denke ich auch. Sagen wir, er ist jemand, der zupackt.«
Sie saßen in Continis Büro, das Fenster zum See weit geöffnet. Der Detektiv hatte seinem Mitarbeiter ein Glas Weißwein gebracht und ein wenig Platz auf dem mit Krimskrams beladenen Schreibtisch geschaffen. Malaspina war offiziell arbeitslos, aber er erledigte tausend kleine Arbeiten. So half er gelegentlich auch Contini. Er leerte sein Glas und sagte:
»Ich habe mich auch unter den Hehlern umgehört, aber ich glaube, dass Marelli kein Dieb ist. Ein paar Gaunereien, versuchter Bankbetrug. Kleinigkeiten.«
Malaspina und Contini, einer dem andern gegenüber, boten einen Anblick, der einem in den Augen wehtat. Der Detektiv trug Jacke und Hose aus weißem Leinen, Malaspina dagegen eine kurze violette Hose und ein enganliegendes orangefarbenes T-Shirt, das seine Muskelpracht kaum verbarg.
»Jedenfalls scheint mir der schwache Punkt an der ganzen Geschichte gerade dieser Marelli zu sein«, sagte Contini. »Forster direkt anzugreifen, ist schwierig.«
»Was hat eigentlich dein Freund Salviati vor?«
»Ich weiß nicht. Ich hoffe, dass er solange stillhält, bis ich Marelli zu fassen bekomme. Ich glaube, dass er uns zu Jeans Tochter bringen kann.«
»Ich habe rausgefunden, wo er wohnt, in Massagno«, erklärte Malaspina, während er vorsichtig sein Glas auf dem Schreibtisch, zwischen einer Kaktuspflanze und einem Schnappmesser, abstellte. »Aber er ist in dem Viertel lange nicht mehr gesehen worden. Es heißt, er habe irgendeine größere Sache am Laufen.«
»Das glaube ich gern! Noch etwas Wein?«
»Danke.« Malaspina hielt sein Glas hin. » Ich halte weiter nach ihm Ausschau. Ich bin sicher, er wird früher oder später auftauchen. Er kann schließlich nicht vollkommen von der Bildfläche verschwinden, oder?«
»Nein«, Contini schüttelte den Kopf. »Aber diese Entführung ist merkwürdig …«
»Wie meinst du das?«
»Marelli besitzt die Informationen über die Banktransfers, schön und gut. Aber warum überlässt man ihm die Organisation von Linas Entführung? Weshalb hat sich Forster nicht jemanden ausgesucht, der geeigneter ist?«
Hinter dem Fenster zerfiel der See in unzählige glitzernde Punkte. Die Mittagssonne entfachte die Funken. Contini kniff die Augen zusammen und ging weiter seinen Gedanken nach.
»Marelli ist ein Betrüger. Aber kein Entführer. Warum also diese Geschichte? Warum scheint es, als wisse Marelli, wo Lina versteckt ist und als liege es in seiner Macht, Telefongespräche zu versprechen?«
»Hm«, Malaspina kratzte sich am Kopf. »Bisher gab es jedenfalls noch keinen Anruf.«
»Auch das ist merkwürdig. Jean verliert allmählich die Geduld. Wieso lassen sie ihn nicht mit seiner Tochter sprechen?«
Malaspina antwortete nicht. Ein grausiger Gedanke ging den beiden Männern durch den Kopf, als habe eine Wolke den See verdunkelt.
»Hoffentlich geht es Lina gut«, sagte Contini und erhob sich. »Gehen wir was
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