Die letzte Nonne - Bilyeau, N: Die letzte Nonne
nickte und zog die Puppe heraus.
»Lucinda!«, schrie Martha. »Ihr habt Lucinda gefunden!« Sie riss die Puppe an sich und drehte sich mit ihr im Kreis.
Ethel sah mich verständnislos an. »Ihr seid eigens hergekommen, um ihr die Puppe zu bringen?«
»Weißt du, wo ich sie gefunden habe?«, fragte ich.
Ethel schüttelte den Kopf.
»Im Gang vor den Gästeschlafzimmern, in denen Lord und Lady Chester an Allerseelen übernachtet haben.«
Blitzschnell entwischte Ethel ins Schlafzimmer. Sie hatte den Sims des offenen Fensters schon erklommen, als Geoffrey sie von hinten packte und herunterzog. Wir setzten Ethel und Martha, beide zitternd vor Furcht, auf zwei Hocker. Es war klar, dass es da etwas gab, das sie uns nicht sagen wollten.
»Wir bestrafen euch nicht«, wiederholte Geoffrey. »Wir wollen nur wissen, was ihr in der Nacht gesehen und gehört habt. Es ist sehr wichtig.«
»Wir waren überhaupt nicht da vorn – wir wissen gar nichts«, behauptete Ethel.
»Kinder, hörte mir zu, ich weiß, dass ihr nach dem Tod eurer Mutter völlig durcheinander wart und außerdem enttäuscht, weil ich nicht da war, um euch zu trösten«, sagte ich. Martha nickte und begann zu weinen. »Und ich hätte schon viel früher zu euch kommen sollen. Ich habe euch im Stich gelassen. Aber im Kloster sind schlimme Dinge passiert. Ihr seid noch klein, aber ihr sollt davon wissen.«
Jetzt hörten beide aufmerksam zu.
»Ich muss das Kloster schützen, in dem eure Mutter seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr beschäftigt war. Aber das kann ich ohne eure Hilfe nicht. Also, wollt ihr mir helfen?«
Martha sah ihre Schwester bittend an.
Ethel seufzte und sagte: »Also gut.« Sie holte einmal tief Atem, dann begann sie zu erzählen. »Als niemand Euch finden konnte, sind wir weggelaufen und haben uns in der Brauerei versteckt. Da gibt’s so eine kleine Kammer, in die nie jemand reingeht. Es war kalt und es hat schlecht gerochen, aber wir waren sicher. Wir wollten noch nicht aus dem Kloster weg. Am nächsten Tag sind alle rumgerannt, weil doch am Abend das Fest war, und da hat uns keiner bemerkt. Wir haben überall im Kloster unsere Verstecke gehabt, wo keiner uns finden konnte.«
Ich öffnete schon den Mund, um nach diesen Verstecken zu fragen, aber Geoffrey stieß mich leicht am Arm an.
»Wir haben gehört, wie die heiligen Schwestern und die Dienstleute über das Fest geredet haben«, fuhr Ethel fort, »und wir haben gewusst, dass die meisten diesen Mann überhaupt nicht dahaben wollten. Es war nicht recht. Und hinterher haben wir ein paar von den Schwestern weinen hören. Wir wussten, dass Lord Chester sehr schlimme Dinge über das Kloster gesagt hatte – dass es bald geschlossen würde. Und dass er einer Novizin was Schlimmes getan hatte. Wir haben gehört, dass Ihr das wart, Schwester Joanna.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es war Schwester Winifred.«
Ethel senkte den Kopf und schwieg einen Moment. Ich sah ihr an, dass der nächste Teil der Geschichte ihr nicht leicht über die Lippen kommen würde. »Wir haben nicht viel Geld, Schwester. Wir haben von den Dienstleuten gehört, dass Lord Chester wertvolle Ringe anhatte, als er zum Fest kam. Und dann ist er besoffen umgefallen, und sie mussten ihn ins Vorderhaus tragen …«
Sie sprach nicht weiter.
Geoffrey sagte sehr milde: »Da habt ihr beschlossen, in sein Zimmer zu schleichen und ihm einen Ring wegzunehmen?«
Martha begann wieder zu weinen. »Es tut uns leid.« Ich streichelte ihren weichen kleinen Arm.
»Wie seid ihr denn ins Vorderhaus gekommen, obwohl doch alle Türen abgeschlossen waren?«, fragte Geoffrey.
»Durch ein Fenster«, antwortete Ethel.
»Aber wir haben alle Fenster überprüft und –« Diesmal stieß ich Geoffrey an. Er sollte das Vertrauen, das wir aufgebaut hatten, nicht durch zweifelnde Fragen erschüttern.
»Wann war das?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte Ethel. »Aber es war lang nach dem letzten Gebet. Wir hatten fast den ganzen Nachmittag geschlafen, daher waren wir nicht müde. Wir wussten, wo die Gästezimmer sind, und haben uns ganz leise hingeschlichen. Dann haben wir ganz vorsichtig die Tür aufgemacht, nur einen Spalt, und –« Sie hielt so abrupt inne, als säße ihr der Schreck noch in den Gliedern.
»Was?«, fragte Geoffrey leise und drängend.
»Da waren zwei Türen, eine rechts und eine links. Und durch die Tür auf der rechten Seite ist eine Frau gegangen.«
Mir wurde beinahe übel.
»Hast du eine
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