Die letzte Odyssee
draußen völlig abzuhalten. Irgendwann Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Flugzeuge so langsam gewesen, daß man in der Ersten Klasse Schlafgelegenheiten vorgesehen hatte. Poole hatte diesen Luxus aus der guten alten Zeit selbst nicht erlebt, obwohl einige Reisegesellschaften ihn noch angeboten hatten, aber er konnte sich durchaus vorstellen, jetzt in einer solchen Maschine zu liegen.
Er zog den Vorhang auf und schaute hinaus. Nein, er war nicht irgendwo am Himmel der Erde aufgewacht, obwohl die Landschaft, die unter ihm vorbeizog, durchaus Ähnlichkeit mit der Antarktis hatte. Aber am Südpol hatte es nie zwei gleichzeitig aufgehende Sonnen gegeben, wie sie der Goliath jetzt entgegenrasten.
Das Schiff schwebte knapp hundert Kilometer über einer riesigen Fläche, die aussah wie frisch gepflügt und leicht mit Schnee überzuckert war. Aber entweder war der Bauer betrunken gewesen – oder das Leitsystem hatte verrückt gespielt, denn die Furchen schlängelten sich nach allen Richtungen, überschnitten sich oder machten einfach mittendrin kehrt. Hier und da zeigten sich schwache Kreise – Kraterschatten, wo vor einer Ewigkeit Meteore eingeschlagen hatten.
Das ist also Ganymed, dachte Poole schläfrig. Der letzte Außenposten der Menschheit! Was zieht einen vernünftigen Menschen hierher? Aber das habe ich mich oft auch gefragt, wenn ich im Winter über Grönland oder Island weggeflogen bin …
Es klopfte an der Tür, jemand rief: »Kann ich reinkommen?«, und bevor Poole antworten konnte, stand Captain Chandler auch schon im Raum.
»Ich dachte, wir lassen dich bis zur Landung schlafen – die Abschiedsparty gestern hat länger gedauert als vorgesehen, aber wenn ich sie vorzeitig beendet hätte, wäre womöglich eine Meuterei ausgebrochen.«
Poole lachte. »Hat denn jemals eine Raumschiffbesatzung gemeutert?«
»Ach, es gab etliche Fälle – aber das war vor meiner Zeit. Wenn wir schon dabei sind, könnte man auch sagen, daß HAL die Tradition begründet hat … Entschuldige – vielleicht hätte ich – schau mal – da ist Ganymed City.«
Ein mehr oder weniger rechtwinkliges Straßengitter mit leichten Unregelmäßigkeiten, wie sie für gewachsene Siedlungen ohne zentrale Planung typisch waren, schob sich über den Horizont. Ein breiter Fluß durchschnitt die Stadt – Poole fiel wieder ein, daß Ganymeds Äquatorialregionen inzwischen warm genug für flüssiges Wasser waren. Er fühlte sich an einen Holzschnitt des mittelalterlichen London erinnert, den er einmal gesehen hatte.
Dann bemerkte er Chandlers belustigten Blick … registrierte die Größe der ›Stadt‹, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen.
»Die Ganymeder«, sagte er trocken, »müssen ganz schöne Kolosse gewesen sein, um fünf bis zehn Kilometer breite Straßen zu bauen.«
»Stellenweise bis zu zwanzig Kilometer. Beeindruckend, nicht wahr? Und alles nur, weil das Eis sich ausdehnte und wieder zusammenzog. Mutter Natur ist sehr erfinderisch … ich könnte dir Muster zeigen, die noch künstlicher aussehen, auch wenn sie nicht so gigantisch sind.«
»Als ich noch ein Kind war, machte man ein großes Tamtam um ein Gesicht auf dem Mars. Natürlich stellte sich heraus, daß es sich um einen Hügel handelte, den die Sandstürme entsprechend zugeschliffen hatten … in den Wüsten der Erde gab es viele ähnliche Formationen.«
»Hat nicht irgendein berühmter Mann gesagt, daß die Geschichte sich stets wiederholt? Mit Ganymed City gab es das gleiche Theater – ein paar Verrückte behaupteten, die Stadt sei von Aliens gebaut worden. Leider wird sie uns nicht mehr lange erhalten bleiben.«
»Warum nicht?« fragte Poole überrascht.
»Sie bricht allmählich zusammen, weil Luzifer den Permafrostboden systematisch aufweicht. In hundert Jahren erkennst du Ganymed nicht wieder … Da ist das Ufer des Gilgamesch-Sees – sieh nur genau hin – da drüben rechts.«
»Aha. Was ist da los – das Wasser kann doch wohl nicht kochen, auch wenn der Druck sehr niedrig ist?«
»Elektrolyseanlage. Millionen Kilogramm Sauerstoff pro Tag. Der Wasserstoff steigt natürlich auf und verteilt sich – hoffentlich.«
Chandler schwieg eine Weile. Als er weitersprach, klang seine Stimme ungewöhnlich zaghaft. »Sieh dir nur das viele, schöne Wasser an – Ganymed braucht nicht einmal die Hälfte davon! Du darfst es niemandem verraten, aber ich habe mir überlegt, wie man einen Teil davon zur Venus schaffen könnte.«
»Wäre das einfacher, als
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