Die letzte Offenbarung
Ausdruck auf Niccolosis Gesicht. Amadeo hatte ihm viel von dem Mann erzählt, dem er seine ersten Schritte in die Materie der Restauration verdankte.
»Angesichts der Dinge, mit denen Sie ständig zu tun haben, muss Ihnen unsere Arbeit armselig vorkommen, Professor«, sagte Niccolosi bescheiden, blickte aber gleichzeitig nicht ohne Stolz auf den heiligen Antonius.
Amadeo staunte. Das musste man Niccolosi lassen: Er verstand sein Handwerk. Dem Codex war nichts mehr anzusehen von seiner unglücklichen Begegnung mit dem caffè .
»Da lassen Sie sich mal keine grauen Haare wachsen!«, erwiderte Helmbrecht aufmunternd.
Amadeo zwang sich, nicht auf den kahlen Schädel seines Kollegen zu blicken.
»Fanelli!«, dröhnte es aus der WC-Tür.
Hatte der Engel, der beim Jüngsten Gericht die Namen der Sünder verlas, eigentlich einen Namen? Giorgio di Tomasi wäre die ideale Besetzung gewesen. Die Tür knallte zu, und der capo starrte Amadeo an wie Jupiter, dessen Donnerkeil das Ziel noch einmal knapp verfehlt hatte.
»Fanelli! Wie erfreulich, dass Sie es einrichten konnten, vor dem pranzo noch reinzuschauen!« Jetzt bemerkte er den Professor. »Ihr Vater?«, fragte er und nahm sich ein wenig zusammen.
»Ingolf Helmbrecht vom Institut für Paläographie.« Mit ausgestreckter Hand eilte Helmbrecht auf ihn zu. »Signor di Tomasi, endlich lernen wir beide uns mal kennen. Unser Amadeo hat mir Wunderdinge erzählt, sage ich Ihnen! Wunderdinge!«
Perplex blickte Giorgio di Tomasi zwischen dem Restaurator und seinem Gast hin und her. »Helmbrecht«, murmelte er. »Professore Helmbrecht, meine ich. Ich bin... ich bin...«
Baff , führte Amadeo den Satz in Gedanken zu Ende. Wer alte Bücher liebte, der kannte Ingolf Helmbrecht. Er hatte mehr als einmal erlebt, wie der capo im Gespräch mit Kunden ganz bescheiden hatte einfließen lassen, dass sein wissenschaftlicher Berater ja in Weimar mit Professor Helmbrecht gearbeitet hatte.
»Sie sind gekommen, um Signor Fanelli bei den Codices zu helfen?« Er schluckte und fügte flüsternd an: »Die aus dem Vatikan? Ich kann Sie unmöglich bezahlen.«
»Bezahlen?« Helmbrecht wischte den Einwand vom Tisch. »Papperlapapp!«, sagte er auf Deutsch.
Di Tomasi starrte ihn verwirrt an.
»Professor Helmbrecht hat sich bereit erklärt, mich ein wenig zu unterstützen«, sagte Amadeo. »Um der Ehre willen«, betonte er.
Weil er glaubt, dass wir der größten wissenschaftlichen Entdeckung der letzten hundert Jahre auf der Spur sind, dachte er. Aber das wusste di Tomasi ja nicht.
»Oh, ja«, nickte Helmbrecht eifrig. »Es ist mir eine große Freude, unserem jungen Mann bei seiner Aufgabe helfen zu können — im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten. Unterschätzen Sie ihn bloß nicht, Signor di Tomasi! Der macht uns beiden etwas vor. Ach, ich freue mich so sehr!« Helmbrecht ergriff die Rechte des capo mit beiden Händen und schüttelte sie, als wollte er ihm den Arm auskugeln. »Eine Zusammenarbeit mit einer officina von diesem Ruf! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich für unseren jungen Mann gefreut habe!«
»Er...« Amadeos Chef warf einen Blick auf seine Hand, die der Professor wieder freigegeben hatte. »Ich kann nicht klagen«, murmelte er.
Vertraulich legte Helmbrecht den Arm um den capo . »Ach, wir beide werden uns viel zu erzählen haben. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört, und ich bestehe darauf, dass Sie mir den Rest Ihrer wunderbaren Werkstatt zeigen, sobald Amadeo mir über seine aktuelle Arbeit berichtet hat.«
Der capo öffnete den Mund.
»Nein!« Helmbrecht ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Ich bestehe darauf! Gleich nach dem pranzol — Dort entlang, Amadeo?« Er wies auf den Flur, der zum Sekretum führte.
Amadeo nickte, selbst mit offenem Mund.
»Professore , darf ich Ihnen...«, versuchte Giorgio di Tomasi es noch einmal.
»Wagen Sie es nicht, mich zu enttäuschen!«, sagte Helmbrecht streng. »Ich kann es kaum erwarten, mein lieber di Tomasi! Kaum erwarten!«
Er ließ den capo los, griff stattdessen nach Amadeos Ärmel und zog den jüngeren Mann mit sich in den Flur. »Wunderdinge, mein Lieber!«, rief er über die Schulter. »Wunderdinge!«
Amadeo nestelte nach dem Schlüssel, den der capo ihm anvertraut hatte, und öffnete die Tür zum Sekretum. Helmbrecht schob ihn hinein und streckte ein letztes Mal den Kopf auf den Flur. »Wunderdinge!«
XIII
» Dio mio !« Amadeo schüttelte den Kopf. Wieder und wieder. Er fühlte sich
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