Die letzte Offenbarung
nicht zuzumuten.
Wie zufällig spazierte Chiara zwischen den Schreibtischen hindurch und ließ die Hand über Niccolosis Stuhllehne gleiten. Der Stoff des Kleides verfing sich für einen Augenblick — und öffnete einen langen, langen Schlitz.
Schon war der Augenblick vorbei, und Amadeo sah sich um. Auf Niccolosis Nacken zeigte sich eine verräterische Röte. Versonnen strich sich Chiara eine blondierte Strähne aus der Stirn.
»Ah, schönes Kind!« Ehe er ihn daran hindern konnte, humpelte Helmbrecht an Amadeo vorbei. Jetzt brauchte er seinen Stock, vermutlich hatte das lange Stehen an der Arbeitsfläche ihn ermüdet. »Ich habe hier eine Liste mit ein paar Kleinigkeiten für heute Mittag. Wirklich nur Kleinigkeiten. Sie wären doch so freundlich? Das ist wirklich lieb! Ich danke Ihnen!«
Die Tochter des capo starrte auf den Zettel, den er ihr in die Hand gedrückt hatte, doch der Professor war schon auf dem Rückweg. Amadeo war reglos stehen geblieben, gefangen von Chiaras versteinerter Miene.
Helmbrecht schien nichts davon zu bemerken. »Sehen Sie«, meinte er zu Amadeo. »Gar kein Problem. Oh«, wandte er sich noch einmal um. »Vorweg hätten wir gerne noch zwei caffè.«
Jetzt fing er den Blick des capo ein. »Gleich nach dem pranzo , nicht vergessen«, drohte er spielerisch mit dem Zeigefinger.
Giorgio di Tomasi nickte stumm. Er legte den Arm um seine Tochter und verließ den Raum in Richtung ascensore .
Missbilligend sah Helmbrecht den beiden nach. »Der Mann sollte sich schämen«, sagte er leise zu Amadeo. »Das junge Ding könnte seine Tochter sein!«
XV
»Schau an.« Der Professor brütete schon wieder über der Handschrift. »Also tatsächlich seine Tochter? Sieht ihm gar nicht ähnlich. Na ja, ein Glück für sie.«
Er nahm den untersten der Papyri in die Hand und zog ihn vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch. »Nein«, murmelte er. »Das wäre zu einfach.«
»Was wäre zu einfach?«
Es klopfte, und Amadeo öffnete.
Niccolosi stand vor der Tür, in der Hand zwei Tassen caffè . »Bevor ihr beiden noch verdurstet«, sagte er grinsend. »Ich bin zwar nicht so hübsch wie die signorina ...«
»Dafür färben Sie sich auch nicht die Haare«, kommentierte Helmbrecht, ohne aufzublicken.
»Kommt ihr denn weiter mit eurer Sache?«, fragte Niccolosi neugierig, wobei er versuchte, über Amadeos Schulter hinweg zu erkennen, was der Professor in der Hand hielt.
»Wir sind zufrieden«, sagte Amadeo knapp und nahm ihm mit einem gemurmelten Dank die Tassen ab.
»Ja?«, meinte der Kahlkopf und sah ihn abwartend an.
»Vielleicht können wir bald schon mehr sagen«, erklärte der Restaurator und legte demonstrativ die Hand auf die Tür. »In ein paar Tagen.«
»Ja«, nickte Niccolosi. »Ich denke, ich gehe jetzt mal runter in die Osteria.«
»Na dann viel Spaß«, erwiderte Amadeo und schloss die Tür.
»Nichts zu spüren«, sagte Helmbrecht und deutete auf den Papyrusstreifen in seiner Hand. »Aber das wäre auch ein Wunder.« Er legte ihn ab und ordnete die Fragmente Kante an Kante untereinander an. »Sie sollten nicht so streng sein mit Ihrem Kollegen«, sagte er übergangslos. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas mit ihnen zu tun hat.«
»Mit wem?«, fragte Amadeo verwirrt.
»Er ist einfach zu unbedarft dafür.« Helmbrecht nahm seine Brille ab und blickte seufzend durch die Gläser. »Es ist fürchterlich. Ist sie nun schmutzig oder nicht? Wenn ich sie absetze, um nachzusehen, erkenne ich gar nichts mehr. — Würden Sie... ?«
Amadeo nahm die Brille entgegen, hielt sie gegen das Licht und gab sie zurück. »Absolut sauber. Vielleicht brauchen Sie stärkere Gläser. — Wozu ist er zu unbedarft?«
»Die sind fast neu.« Der Professor runzelte die Stirn. »Und waren nicht billig. — Na, für den Vatikan.«
»Was?« Amadeo starrte ihn an. Plötzlich war wieder dieses Schwindelgefühl in seinem Kopf, genau wie letzte Nacht, als ihm auf einmal klargeworden war, was er da in der Hand hielt.
»Der Vatikan«, wiederholte Helmbrecht. »Schon mal gehört? Der Sitz des Papstes.«
»Sie meinen, der Heilige Stuhl lässt uns...«
»Mein lieber Amadeo!« Der Professor stieß einen tiefen Seufzer aus. »Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen schon in Weimar wieder und wieder gesagt habe? Der Teufel steckt im Detail! Sie sind ein Mann für die großen Entwürfe. Darin sind Sie gut, beinahe genial. Wenn Sie jedoch nicht lernen, auch die Kleinigkeiten im Auge zu behalten, werden
Weitere Kostenlose Bücher