Die letzte Offenbarung
Vitriol und begann das oberste Fragment zu betupfen. Auf diese Weise arbeitete er sich von einem Fragment zum anderen vor.
»Die Buchstaben sind inzwischen ein wenig verblasst«, murmelte er. »Trotzdem kann man sie noch immer deutlich sehen.«
»So ist es«, sagte der Professor und reichte Amadeo der Reihe nach die anderen Fragmente. »Noch viel interessanter ist hingegen, was wir im Augenblick nicht sehen können.
Nicht verwunderlich, dass Vitriol den großen Alchimisten als eine der mächtigsten Substanzen überhaupt galt. Unsichtbares sichtbar machen — das grenzt an Magie.«
»Allerdings sehe ich noch immer nichts«, bemerkte Amadeo.
»So schnell geht das auch nicht. Machen Sie nur weiter.«
Amadeo ließ sich Zeit. Es war eine kniffelige Arbeit, denn das Vitriol war eine nahezu farblose Flüssigkeit, daher war kaum zu erkennen, welche Stellen er bereits bearbeitet hatte. Lieber einmal zu viel, dachte er, als einmal zu wenig. Schließlich war er zufrieden: »Damit sollte ich alles erwischt haben. Was denken Sie?«, fragte er. »Wie lange wird es dauern?«
»Nach fast zweitausend Jahren?« Der Professor hob die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht passiert auch gar nichts, aber den Versuch ist es wert. Doch diesem großen Geheimnis, mein lieber Amadeo, wenn es denn ein Geheimnis gibt, dem möchte ich mit vollem Magen gegenübertreten. Jetzt können Sie uns Stadtkindern mal beweisen, dass man sich in den Marken auf die hohe Schule der Kochkunst versteht.«
XVII
Amadeo war beeindruckt von Helmbrechts engelsgleicher Geduld. Seit mehr als einer Stunde lauschte sein Mentor den Worten des capo , und auf seiner Miene stand nichts als brennendes Interesse, ja: Faszination. Der Professor war fast den ganzen Tag auf den Beinen und musste seinen Stock zu Hilfe nehmen, doch das konnte seine Begeisterung nicht bremsen. In Amadeo erwachte die irrwitzige Vorstellung, diese Anteilnahme sei womöglich gar nicht geheuchelt, sondern entspringe echtem Interesse an Giorgio di Tomasis Arbeit.
Im Grunde konnte Amadeo zufrieden sein. Seine Kochkünste waren ausdrücklich gelobt worden — sogar vom Werkstattinhaber höchstpersönlich. Ob das eine gute Idee gewesen war? Ein Begrüßungsessen anlässlich von Helmbrechts Besuch? Er mochte jetzt nicht darüber nachdenken, was das für Fernwirkungen haben würde. Nachdem er ohnehin schon für den caffè corretto zuständig war, würde er Giorgio di Tomasi nun auch noch bekochen müssen?
Nein! Immer wieder vergaß er, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war. Noch immer war es unvorstellbar, aber seine Tage in der officina waren gezählt. Versteckt in einer unscheinbaren Schublade lag die letzte Offenbarung des Johannes — oder zumindest ihr Beginn. Ein Dokument, das einzigartig war in der Geschichte wissenschaftlicher Entdeckungen. Und er, Amadeo Fanelli, er hatte es der Fachwelt geschenkt.
Jedenfalls würde er es der Fachwelt schenken. Demnächst. Sobald sie wussten, ob das Vitriol noch weitere Geheimnisse der Handschrift zum Vorschein bringen würde. Sobald Giorgio di Tomasi seinen endlosen Vortrag über die Aufgaben seines Unternehmens beendet hatte. Chiara war die ganze Zeit dabei. Sie war das Musterbeispiel einer erwachsenen Tochter, die die Arbeit ihres Papas aus der tiefsten Faser ihres Seins bewunderte. Wenn diese Bewunderung noch durch irgendetwas zu übertreffen war, so durch die scharfsinnigen Zwischenfragen, mit denen der Professor den capo hin und wieder unterbrach. Dann lagen die leuchtenden Augen von Giorgio di Tomasis Tochter auf dem betagten Gast aus Deutschland, der sich diese Zuwendung gern gefallen ließ.
Hin und wieder legte Chiara die Hand auf Helmbrechts Unterarm und ergänzte etwas zu den Worten ihres Vaters oder wies ihn fürsorglich auf ein besonderes Detail der Ausstattung hin.
Das ist kein weiblicher Ödipuskomplex, dachte Amadeo. Das grenzt an Nekrophilie!
Endlich, nach beinahe zwei Stunden, schienen sowohl der capo als auch der Professor erschöpft. Amadeo glaubte nicht, dass er selbst jenseits der siebzig noch eine solche Konstitution besitzen Würde.
»Das waren nur ein paar kurze Bemerkungen«, schloss Giorgio di Tomasi. »Natürlich sind das willkürliche Ausschnitte aus der alltäglichen Arbeit, die in einer officina so anfällt. Die geschäftliche Seite würde Sie mit Sicherheit langweilen, mein lieber professore , und über die Bedeutung der Tätigkeit, die wir hier als winziges Rädchen im großen Getriebe unseres
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