Die letzte Offenbarung
eins.«
»Lassen Sie mich mal sehen!« Er drängte den jüngeren Mann beiseite. »Hmm.«
»Erkennen Sie's, da ist das Iota!« Der junge Restaurator zeigte auf die Stelle. »Da ist noch eins.«
Helmbrecht brachte seine Nase zehn Zentimeter über das Fragment. »Jetzt nehmen Sie doch endlich mal die Hände weg! Ich seh ja gar nichts. Geben Sie mir lieber meine Brille!«
»Die haben Sie auf!«, brummte Amadeo.
»Oh.« Der Professor nahm sie ab und reichte sie ihm. »Ist sie schmutzig?«
Amadeo hielt die Brille gegen das Licht: »Nein, ist sie nicht.« Er gab sie Helmbrecht zurück, beugte sich nun aber selbst wieder über das Blatt. »Doch, das ist ein Iota.«
Der Professor schnaubte. »Ein Iota ist einfach. Ein Iota ist auch nur ein senkrechter Strich. Ein lateinisches I sieht auch nicht anders aus.« Er stockte. »Amadeo!«
Alarmiert blickte der Restaurator auf. »Was ist mit Ihnen?« Helmbrecht war blass geworden. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Lassen Sie mich ran!« Er stieß Amadeo so heftig beiseite, dass der Jüngere ins Stolpern kam und sich an der Arbeitsfläche abstützen musste.
»Professor, das ist allmählich...«
»Das ist ein I!«, triumphierte Helmbrecht. »Und das da hinten ist kein Tau, sondern ein lateinisches T! Und Ihr Ny ist ein N!«
»Das ist gar kein griechischer Text?«
»Augenblick mal«, murmelte der Professor. »Ich habe es gleich. Zettel und Stift bitte!«
Amadeo knallte beides auf die Arbeitsfläche. Es gab Grenzen, auch für einen Fanelli aus den Marken!
Helmbrecht zog Stift und Zettel zu sich heran und begann zu notieren:
venit .____.____ .quae .___.___ es.fa ___ t
»Den Rest kann ich nicht entziffern.« Der Professor schob den Zettel zu Amadeo hinüber. »Jetzt versuchen Sie Ihr Glück! Das ist ein lateinischer Satz.«
»›Es kommt‹« , sagte Amadeo leise. »Oder ›er kommt‹ ? Wer kommt? Das muss das zweite oder dritte Wort sein. Und das Relativpronomen...«
»Versuchen Sie einfach nur, die Buchstaben zu erkennen! Übersetzen können wir hinterher!«
»Er kommt«, sagte Amadeo unbeirrt. »Wer kommt? Jesus? So endet bei Johannes die Offenbarung, zumindest die in der Bibel: ›Er, der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald. — Amen. Komm, Herr Jesus!‹«
»Was stehen da für Buchstaben?«, forderte Helmbrecht ungehalten. Wahrscheinlich war seine Stimme draußen auf dem Flur zu hören — und bei Niccolosi konnte Amadeo sich durchaus vorstellen, dass er mit dem Ohr an der Tür klebte.
»Er kommt«, setzte Amadeo noch einmal an. »Nur was macht er dann? Was ›macht‹ er. Das wäre ›facet‹.«
»Er macht gar nichts mehr«, knurrte der Professor. »Jesus ist doch schon tot, das hat Johannes selbst geschrieben.«
»Aber er wird wiederkommen!«, sagte Amadeo. »Das ist es nämlich! Er wird es erst machen! Futur! Das letzte Wort lautet ›faciat‹ !«
venit .____.____ .quae .___.___ es.faciat
»Er kommt, der was auch immer macht«, grübelte er.
»Erschlagen Sie mich, Amadeo, aber ›quae‹ ist feminin. So war der Sohn Gottes nicht gebaut.«
»Lassen Sie das den capo hören«, zischte Amadeo, »und es ist vorbei mit der wunderbaren Freundschaft.«
Aber Helmbrecht hatte Recht. Jesus kam nicht infrage. Nur: Wer sonst?
Der Professor drängte sich wieder näher heran. »Faciat« , bestätigte er. »Jetzt sehe ich es auch. Damit hätten wir auch das c. So schreibt er also das c. Das ist sehr viel später, Amadeo. Das ist keine antike Schrift. Das ist eine Minuskel. Da vorne ist noch zweimal das c... und davor und dahinter...«
venit.ecce .____ .quae .___.___ es.faciat
»Ecce!« Amadeo nickte. »Siehe, sie kommt! Sie, die in Zukunft etwas machen wird.«
»Wir können nicht wissen, ob das Wort auch im Italienischen weiblich ist. Oder im Deutschen.«
»Im Italienischen ist es höchstwahrscheinlich ebenfalls weiblich«, grübelte Amadeo. »Da hat sich nicht viel geändert. Das muss das dritte Wort... ›mors‹! Sehen Sie! Das o ist ganz deutlich... nur das r ist kaum zu erkennen.«
Helmbrecht starrte einen Moment angestrengt auf den Papyrus. »Ja«, sagte er knapp. »Ich glaube, da ist eine kleine Beschädigung. Da steht ganz sicher ›mors‹.«
venit.ecce.mors.quae .___.___ es.faciat
»Siehe, es kommt der Tod, der etwas machen wird«, übersetzte Amadeo. »Das ergibt auch einen Sinn im Zusammenhang. Johannes spürt seinen Tod nahen, deshalb will er seine letzte Offenbarung aufzeichnen.«
»Hören Sie mir etwa nicht zu?«, knurrte Helmbrecht. »Das
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