Die letzte Offenbarung
mehr als das. Ich will Euch davon berichten, doch nicht an dieser Stelle, sondern wenn meine Erzählung an jenen Tunkt gelangt ist .
Wann immer ich die Gelegenheit dazu bekam, gingen meine Augen zu ihm, zu Jesus. Er saß schweigend inmitten der Feiernden, an deren Fröhlichkeit er keinen Anteil nahm. Oder lag ein stilles Lächeln auf seinen Lippen, geboren aus dem tiefen Wissen, dass es jetzt begonnen hatte? Dass der Weg nicht mehr aufzuhalten war? Er sprach kein Wort, während die Feierlichkeiten ihren Fortgang nahmen, wilder wurden, als das unverhoffte Geschenk jenes neuen Weins ausgeschenkt wurde und die älteren Leute sich zurückzogen. Ich sah seine Mutter, die ihn voller Stolz und neuer Zärtlichkeit betrachtete, und ich verstand es nicht, da er sie doch so heftig angefahren hatte. Wusste auch sie, dass er den ersten Schritt getan hatte, den ersten Schritt auf dem Wege, der ihr den Sohn nehmen — und einen neuen schenken würde? Mich. Manchmal glaube ich es, doch ich habe es nie gewagt, sie danach zu fragen. Zu groß war meine eigene Liebe zu dieser Frau, zu groß meine Furcht, ihr Schmerz zuzufügen mit meiner Frage: Denn nicht nur jener, der ihn gesandt hatte, sondern auch sie hat ihren Sohn hingegeben .
Ich sah die Männer an seiner Seite, deren Namen ich noch nicht kannte. Wie wenig sie sich unterschieden von den anderen Tafelnden. Fischer waren sie, vom See Genezareth, dessen Ufer drei oder vier Wegstunden entfernt waren. Einzig Philippus fiel mir auf, der sich schon damals nach der Art der Griechen zu kleiden pflegte und an diesem Abend an Jesu Seite saß, vertieft ins Gespräch mit Andreas, dem Bruder des Simon, den er Kephas genannt hatte, das heißt »Fels«, oder »Petrus« in der Sprache der Römer .
Vor allem aber lagen meine Augen auf ihm, auf Jesus, dessen Blick noch immer in die Ferne gerichtet war und der sich kaum zu regen schien, bis die Stunde gekommen war, da sie die Tafel aufhoben und die Feiernden sich zerstreuten. Viele von ihnen waren für die Nacht bei den Familien des Dorfes untergekommen, so auch in meines Vaters Haus und bei meinem Bruder Jakobus. Jesus aber und jene, die ihm folgten, rüsteten sich, unter der weißen Leinwand der Feststätte ihr Lager aufzuschlagen .
Nun aber, da beinahe alle, die sich an den Tischen an seinem Wein gelabt und von den erlesenen Speisen der Tafel gekostet hatten, gegangen waren, gewahrte ich, wie einige der jüngeren Männer aus dem Dorf auf ihn zutraten und zu ihm sprachen: »Rabbuni, lehre uns!« Denn sie wussten, welche Rede von Jesus ging, der lehrend durch das Land zog, und was der Täufer über ihn gesagt hatte mit den Worten des Propheten Jesaja: »Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem Herrn seine Wege und macht seine Steige eben!«
Und so versammelten sie sich um ihn. Ich aber, der ich mein siebzehntes Jahr kaum erreicht hatte, stand ein Stück entfernt bei einigen der Jungen und jüngeren Männer, die den Feiernden an der Tafel aufgetragen hatten, und mühte mich, seine Worte zu erlauschen .
Da aber gewahrten uns jene, die bei ihm standen, und einige unter ihnen, Philippus zumal und Simon Petrus, befahlen uns zu verschwinden, die wir doch kaum mehr seien als Kinder und noch unwissend in den Gebräuchen und Anweisungen der Schrift. Da aber sah ich, wie sich Jesu Augen auf uns richteten, ja: auf mich, und eine Veränderung geschah auf seinem Gesicht. Es mag sein, dass dies ein zweites Erkennen war. Das Erkennen, dass auch ich ein Teil jenes Weges war, der ihn an das Kreuz auf dem Hügel von Golgatha führen würde. Sogleich aber unterbrach er jene, die uns davonzujagen suchten, und sprach, wie ich ihn noch manches Mal später reden hörte: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht in der Finsternis bleiben.« Und sodann fügte er an: »Lasset auch jene zu mir kommen, die jung sind an Jahren, und hindert sie nicht. Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.«
Ich aber ahnte damals nicht, dass er diese Worte einzig meinetwegen gesprochen hatte: Zwar hat er uns alle miteinander erlöst mit seinem Wort, seinem Blut und seinem Fleische, doch denen, die so jung sind an Jahren und unkundig, war es nicht gegeben, den Sinn seiner Worte zu erfassen. In Wahrheit nämlich war seine Botschaft schwierig zu begreifen, selbst für jene, die bewandert sind in den Geboten und Gebräuchen der Schrift. Er aber wollte mich an seiner Seite haben, und so blieb ihm auch später nichts anderes, als jenen
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