Die letzte Offenbarung
Handwerks verrichten, wissen Sie vermutlich weit besser Bescheid als ich.«
»Aber nein!« Helmbrecht drückte Amadeo seinen Stock in die Hand und schloss den capo in die Arme. »Mein lieber dottore di Tomasi, nein! Darf ich es wagen? Mein lieber Giorgio! Sie müssen mich bitte Ingolf nennen — oder Ingolfo, wenn Ihnen das leichter über die Lippen kommt. Niemals, wahrlich niemals käme ich auf die Idee, die Bedeutung dessen zu unterschätzen, was Sie in Ihrem altehrwürdigen Unternehmen für die Wissenschaft leisten. Wie viele unersetzliche Codices wären der Fachwelt längst verloren gegangen, wenn Sie nicht wären? Ach, was rede ich: der Fachwelt? Der ganzen Menschheit, mein lieber Giorgio. Der Menschheit! Sie sind ein Wohltäter der Menschheit.«
Amadeo staunte, mit welchem Pokerface der Professor das hinbekam. Di Tomasi, wie es aussah, ließ sich ködern von dem überschwänglichen Lob aus einem derart berufenen Munde. Täuschte der Restaurator sich, oder standen dem capo Tränen in den Augen, als Helmbrecht ihn noch einmal herzhaft an sich drückte, bevor er schließlich von ihm abließ.
Giorgio di Tomasis Wangen waren feuerrot. In diesem Augenblick entdeckte Amadeo zum ersten Mal eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Tochter. »Mein lieber Ingolfo«, sagte der Werkstattinhaber mit bebender Stimme. »Wir sind geehrt, und wir sind glücklich, Sie hier zu haben, und dass Sie noch dazu unseren jungen Mann bei der Arbeit unterstützen.«
»Oh, nennen wir es eine glückliche Fügung«, erwiderte Helmbrecht. »Ich hatte diese Reise schon längere Zeit geplant. Dass Sie unserem Amadeo gerade zu diesem Zeitpunkt eine Aufgabe von einer solchen Bedeutung übertragen.« Er senkte die Stimme, bis sie beinahe ein Flüstern war. »Man stelle sich vor: Codices aus der Biblioteca Apostolica.«
Amadeo war sich sicher, dass weder der Inhaber der officina noch seine Tochter das leichte Zucken bemerkte, das um Helmbrechts Mundwinkel lag.
»Auch für uns ist das kein alltäglicher Auftrag«, sagte Giorgio di Tomasi bescheiden. »Es ist eine Ehre und eine Auszeichnung, dass sich der Heilige Stuhl an uns wendet. Wobei, das vergaß ich zu erwähnen, schon der Großvater meines eigenen Urgroßvaters für papa Pio, den seligen pontifice Pio den Neunten wohlgemerkt, tätig gewesen ist. In Wahrheit reicht unsere Familientradition sogar noch weiter zurück.«
Amadeo schloss die Augen. Wenn der capo jetzt in seine Familiengeschichte einstieg, würde das mindestens noch eine weitere Stunde dauern. Er kannte diesen Vortrag. Er hatte ihn in seinen ersten Tagen in der officina zehn oder zwölf Mal zu hören bekommen.
Doch der Professor war auf der Hut, und er ging geschickt vor. Amadeo ahnte, worauf sein Mentor hinauswollte, als Helmbrecht wie nebenbei bemerkte: »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht viele officine gibt, denen der Heilige Stuhl seit so langer Zeit sein Vertrauen schenkt. Mit Sicherheit haben sie nicht ansatzweise die Traditionen Ihres Hauses.«
»Nein, gewiss nicht.« Giorgio di Tomasi hob die Stimme. »Schauen Sie, die meisten anderen Häuser... das ist... Trastevere.« Er betonte das Wort wie jemand, der sehr gut weiß, dass er von etwas vage Unanständigem spricht, als aufgeklärter Mensch aber natürlich frei ist von Vorurteilen. »Sie wären im Vatikan mit Sicherheit ebenfalls vorsichtig, ihre Handschriften jemandem anzuvertrauen, der mit der Waffe auf sie losgegangen ist.«
»Mit der Waffe?«, fragte der Professor erstaunt. »Sie meinen doch nicht etwa das Attentat auf Giovanni Paolo?«
Der capo lachte, vielleicht räusperte er sich auch nur. »Nein, das nicht. Ich traue meinem Kollegen Pozzo einiges zu... oder Grotta-Ferrese. Aber ihre Vorgänger gehörten zu den übelsten Scharfmachern bei den Aufständen von neunundvierzig. «
»Neunzehnhundertneunundvierzig?« Helmbrecht war verwirrt. »Die Kommunisten?«
»Achtzehnhundertneunundvierzig«, murmelte Amadeo. »Die republikanische Erhebung gegen Pius den Neunten.«
»Lange her für unsere schnelllebige Zeit«, erwiderte der capo mit einem Nicken. »Aber wie gestern in den Augen der Heiligen Mutter Kirche. Ich bin mir sicher, dass man die größten Kostbarkeiten ausschließlich uns anvertraut hat.«
»Eine weise Entscheidung«, stimmte Helmbrecht zu. »Ach...« Wie zufällig fiel sein Blick auf die Ziffern der Digitaluhr. »So fliegen die Stunden dahin. Mein lieber Giorgio, ich habe unserem Amadeo versprochen, ihm heute noch ein wenig zur Hand zu gehen
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