Die letzte Offenbarung
Rücken dieser Bücher verbirgt? Vielleicht in allen!«
Helmbrecht blickte auf den Karton. »Dann hätten sie die Schriften mit Sicherheit nicht zur Restaurierung gegeben, und wenn der x-te Urahn Ihres capo dem heiligen Petrus persönlich die Handschriften ausgebessert hätte. Haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, was der Heilige Stuhl davon halten wird, wenn das hier bekannt wird?«
»Er wird jedenfalls nicht begeistert sein«, murmelte der Restaurator.
»Mein lieber Amadeo, manchmal frage ich mich, ob das Understatement ist bei Ihnen oder einfach nur ein unglaubliches Maß an Fantasielosigkeit.« Vorsichtig schloss er den Buchdeckel. »Warum musste Johann Hus sterben, der große Ketzer? Warum verbrachte Galilei seine letzten Jahre im Gefängnis der eigenen vier Wände? Warum hat man die Schriften des Petrus Abaelard verbrannt? Warum haben seine Gegner ihn kastriert?«
»Er hatte eine Affäre mit Heloise«, erwiderte Amadeo. »Sie war Nonne.«
»Wenn man so mit sämtlichen Priestern verfahren würde, die Affären haben, hätte die Heilige Kirche eine Sorge weniger«, seufzte der Professor. »Allen diesen Männern war gemeinsam, dass sie die Allmacht der Kirche, die Allmacht des Heiligen Stuhls angriffen. Hus stellte die Macht des Konzils über die Macht des Papstes. Galilei behauptete, die Erde, die doch die Schöpfung Gottes war, stehe nicht unverrückbar im Raum. Musste da der Papst nicht befürchten, dass das auf ihn abfärben würde? Abaelard wiederum wollte die Existenz Gottes beweisen, ja, es gelang ihm sogar, sie zu beweisen. Nur war ein Beweis auf der Basis menschlichen Fassungsvermögens schon gefährlich genug.«
»Das war doch etwas ganz anderes«, sagte Amadeo. »Wir haben hier eine Schrift, die von Johannes selbst stammt! Von dem Apostel, der bei Tische an der Schulter Jesu Christi ruhte!«
»Amadeo, so naiv können Sie nicht sein!« Helmbrecht merkte, dass er zu laut gesprochen hatte, und dämpfte seine Stimme. »Das macht diese Schrift noch viel gefährlicher! Hundert, ach was, tausend Mal gefährlicher! Ein Apostel, der behauptet, die Evangelien seien nicht die Wahrheit!«
»Aber er schreibt auch: Denn auch jenes ist Wahrheit — auf seine Weise. Ich habe nicht gelogen.«
Der Professor schnaubte. »Sie glauben im Ernst, das wird sie aufhalten? Ganz davon zu schweigen, dass wir den Kern dieser Offenbarung noch gar nicht kennen! Jede einzelne Silbe, Amadeo, die den Kern ihrer Lehre verändert, ist eine tödliche Gefahr für diese Leute! Das, mein Lieber, sollten wir uns ständig vor Augen halten, falls wir in diesem Seneca eine neue Botschaft von Johannes finden.« Er zog das Buch zu sich heran. »Pinzette! Ich mache das!«
XX
Wieder waren es elf Pergamentstreifen, und Helmbrecht war es tatsächlich gelungen, sie allesamt zum Vorschein zu bringen, ohne den ohnehin schon mitgenommenen Codex noch weiter zu beschädigen. Die Fragmente selbst waren in einem üblen Zustand. Ob er vom Wasserschaden beim Brand des Vatikans im vergangenen Sommer rührte oder früheren Beschädigungen des Seneca zuzuschreiben war, konnte Amadeo nicht sagen.
Helmbrecht legte die Papyri vorsichtig untereinander, und Amadeo bedeckte sie mit einer Glasplatte, um sie in dieser Position zu fixieren. Dann begann der Professor mit leiser Stimme vorzulesen und sogleich Satz für Satz zu übersetzen.
Die letzte Offenbarung
An jenem Tag in Kana will ich meinen Bericht aufnehmen, jenem Tag, an dem ich seines Blicks gewahr wurde und doch nicht wusste, ob auch er mich gesehen hatte. Zu groß war seine Erregung, zu gewaltig das Wissen, das in diesem Augenblick von ihm Besitz ergriffen hatte. Sein Weg hatte begonnen .
Ich entsinne mich, wie der Tafelmeister, dem die Brautleute das Wohl ihrer Gäste übertragen hatten, auf mich zukam. Wie er mich anhielt, als er sah, dass ich mit dem neuen Wein zu den Tischen eilte. Dem Wein, den Jesus in sechs steinernen Wasserkrügen erschaffen hatte. Er hielt mich an, fragte, was ich den Gästen denn da wohl brächte — wusste er doch, dass der Wein längst zur Neige gegangen war. Er kostete, und ich sah, wie er zornig wurde, als er zum Bräutigam eilte, »jeder gibt zuerst den guten Wein, und dann, wenn er sie trunken gemacht hat, gibt er den schlechteren! Du aber hast den guten Wein bis jetzt zurückgehalten!«
Und es war guter Wein, wenn es auch noch nicht der Wein seines Blutes, das Brot seines Leibes war, die er uns an jenem Tage gab. Ich habe von beidem gekostet — und
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