Die letzte Offenbarung
Professor vieldeutig. »Ich habe trotzdem noch immer ein schlechtes Gewissen, dass ich in Ihren Hausstand eindringe.«
»Mein lieber Ingolfo, ich sagte bereits, es ist uns ein besonderes Vergnügen! In meinem Haus werden Sie alles finden, was ein Hotel Ihnen nur bieten könnte. Sie haben selbstverständlich Ihr eigenes Bad und sogar einen Internetzugang. «
Helmbrecht nickte. »Ich habe meinen Laptop im Gepäck, für den Fall, dass wir etwas recherchieren müssen. Sie haben unserem jungen Mann da einige wirklich knifflige Fälle übertragen. Es wird nicht leicht sein, alle Materialien, die zur Restaurierung derart seltener Exemplare nötig sind, kurzfristig zu bekommen. Aber unsere schnelllebige, moderne Welt hat auch ihre guten Seiten, denn bei Problemen wie diesen ist das Internet ein wahrer Segen.«
Wieder erkannte Amadeo nicht das kleinste Augenzwinkern. Wie stellte Helmbrecht das nur an? Wie hielt er seine Gesichtszüge unter Kontrolle? Auf der anderen Seite: Der Professor wollte ja tatsächlich recherchieren, nur wonach — das war der kleine, fundamentale Unterschied.
»Sehr interessant. Sehr interessant. Eventuell werde ich sogar mit Kollegen in den Vereinigten Staaten Kontakt aufnehmen müssen. Der Seneca...«
Chiara hing an seinen Lippen, als berichte Helmbrecht über die aufregendste Sache der Welt. »Der Seneca?«, flüsterte sie.
»Eine Seneca-Handschrift aus dem zehnten Jahrhundert, wie ich vermute. Leider extrem mitgenommen. Ich würde mich gerne über vergleichbare Stücke informieren, bevor wir zur Restaurierung schreiten.«
»Seneca«, wiederholte sie verzückt. »Spannend?«
Nicht eine Wimper zuckte in Helmbrechts Gesicht. »Im Mittelalter wurde er viel gelesen, weil man glaubte, er habe im Briefwechsel mit dem Apostel Paulus gestanden. Er galt quasi als christlicher Heiliger und war ein ungeheuer einflussreicher Philosoph und außerdem der Erzieher des Nero. Eine Berühmtheit in seiner Zeit.«
»So was wie Giorgio Armani«, ergänzte Amadeo und biss sich auf die Zunge.
Chiara warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Eine halbe Stunde später breiteten Amadeo und sein ehemaliger Mentor die Bruchstücke aus dem Seneca vorsichtig auf der Arbeitsfläche aus. Der capo und seine Tochter hatten die officina bereits verlassen, und nur Niccolosi tüftelte noch an den kümmerlichen Überresten eines spätmittelalterlichen Stundenbuchs. Er hatte vorhin einen weiteren Versuch unternommen, sich mithilfe zweier caffè coretti Zutritt zum Sekretum zu verschaffen, war allerdings erneut gescheitert. Für heute Abend würde er wohl Ruhe geben.
»Schau an«, sagte Helmbrecht. »Schau an, schau an! Sehr viel deutlicher als auf dem Fragment aus dem Seneca.«
»Wie kommt das?«, fragte Amadeo. »Dieses hier war doch viel schlechter erhalten.«
»Vielleicht deswegen«, überlegte der Professor. »Die Feuchtigkeit könnte einen chemischen Prozess in Gang gesetzt haben, der uns jetzt zugutekommt. Na, was lesen Sie?«
»Es ist eindeutig dieselbe Schrift wie im Buch«, sagte Amadeo. »Dieselbe Schrift wie auf dem Papyrus im Hortulus . Da steht...« Er zog den Schreibblock heran und schrieb auf einen neuen Zettel: exoriare.aliquis.nostris.ex.ossibus.ultor .
»Ein Rächer wird wachsen aus uns'rem Gebein«, übersetzte er. »Ein ganz bekannter Satz von Vergil.«
»Das wird ja immer erfreulicher«, murmelte Helmbrecht. »Erst der Tod, der uns zu Gleichen macht, und jetzt der Rächer aus ihren Gebeinen. Nun gut, das muss nichts zu sagen haben. Also, junger Mann, auf geht's, und zwar pronto!«
»Auf geht's?« Amadeo sah ihn fragend an.
»Na, zum Vergil.« Der Professor wies auf den Karton mit der Aufschrift: Attenzione! Vetro! Fragile! Vielleicht hatte er einmal Glas enthalten oder Porzellan, doch auch so war es eigentlich ganz passend, fand Amadeo.
Er folgte dem Blick des Professors. »Da ist kein Vergil drin«, sagte er.
»Was soll das heißen?« Helmbrechts Stirn legte sich in Falten. »Zeigen Sie mal her. Sie werden doch einen Vergil erkennen.«
»Da ist kein Vergil drin«, wiederholte Amadeo. »Schauen Sie ruhig selbst rein!« Er wuchtete den schweren Karton hoch. »Es sind sechzehn oder siebzehn Manuskripte. Beim Ptolemäus fehlt der Buchdeckel. Ich bin mir nicht sicher, ob er ein- oder zweibändig war.«
Stirnrunzelnd hob Helmbrecht einen Band nach dem anderen aus dem Karton, legte ihn auf der Arbeitsfläche ab und las den Anfang des Werkes, so er vorhanden war. Wenn ihm das nichts sagte, begann er zu
Weitere Kostenlose Bücher