Die letzte Praline
Rechten. »Alle hätten es verdient weiterzukommen, und ich bin niemand, der so etwas leichtfertig sagt. In anderen Jahren, bei einer etwas schwächeren Konkurrenz, hätte jeder Einzelne von ihnen das Finale erreicht. Doch niemals zuvor war eine Weltmeisterschaft der Chocolatiers besser besetzt, sodass es in diesem Jahr einzig Kleinigkeiten sind, die entscheiden. Der letzte Finalist ist …« Adalbert kostete die Spannung ein letztes Mal aus, denn er wusste, nun platzte eine kleine Bombe. »… Vanessa Hohenhausen aus Deutschland!«
Die gerade Aufgerufene konnte es nicht fassen. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, ihre Wangen wurden so rot, als hätte jemand Lampen in ihnen angezündet, Tränen strömten wie mit Hochdruck aus ihren Augen, und dann entlud sich ihr ganzes Glück in einem lauten Freudenschrei, bevor sie kopfschüttelnd das Podest betrat. Die Jury war nicht nur von der feinfühligen Balance der Torte und der wolkenhaften Art, wie sie über die Zunge flog, beeindruckt gewesen, sondern auch davon, wie die Deutsche innerhalb kürzester Zeit ihre gestürzte Torte wieder aufgebaut hatte. Das Unglück war im Nachhinein ein echter Glücksfall gewesen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Urs Egelis Gesichtszüge entgleisten in dem Tempo eines ICE, wogegen Bulldoss, Gnarr und Bertinotti tapfer Beifall spendeten. Adalbert tat der schweizerische Vertreter leid, dessen Torte aus hundertprozentiger Schokolade er für ein Weltwunder hielt und die seinem Sinn für bescheidene Eleganz und Perfektion am nächsten kam. Doch Egeli hatte eine vergleichbare Torte bereits beim Jubiläum seiner Pralinerie präsentiert. Wenn auch nur mit achtzigprozentiger Schokolade und bei Weitem nicht so perfekt austariert, doch eben im Ansatz gleich – das hatten die anderen Juroren nicht durchgehen lassen. Der Professor war sich trotzdem sicher, dass dieses Wunderwerk in der Schokoladenwelt für Furore sorgen würde.
Mittlerweile hatten sich Fotografen um die Finalisten geschart und ließen ein Blitzlichtgewitter auf sie niedergehen. Wenn sich alles etwas beruhigt hatte, würde Adalbert das weitere Procedere bekannt geben und zum Finale einladen, bei dem eine Schokoladenskulptur mit korrespondierenden Pralinen kreiert werden musste. Höchste Schwierigkeitsstufe.
Doch er kam nicht dazu.
Der Professor kam nicht mehr dazu, auch nur eine Silbe zu sagen.
Ein lauter Peitschenknall hallte durch das Zelt, dann noch einer und kurz danach ein weiterer. Dabei war der Tierdompteur außer Haus. Das Publikum wurde unruhig und ängstlich. Weiterhin ertönten knallende Peitschen, allmählich wurde klar, dass die Geräusche von außen kamen und scheinbar rund ums Zelt liefen, unaufhaltsam, in stetem Takt. Die Ersten versuchten, das Zelt zu verlassen, doch der Eingang war verschlossen worden, von außen. Als dieses Wissen die Anwesenden erfasste wie eine große dunkle Welle, brach Panik aus, die sich in Angstschreien entlud, in Fluchtversuchen, aber auch in gezückten Handys – die teils zum Senden eines Notrufs und teils zum Filmen der panischen Menschenmasse benutzt wurden.
Das Peitschenknallen ging unaufhörlich weiter, und langsam begriffen alle, was es zu bedeuten hatte. Denn es passierte das, wovor die Gallier immer die größte Angst hatten: Der Himmel fiel ihnen auf den Kopf.
Der Professor blickte empor in die Spitze des Zeltes, die sich wie ein in sich zusammenfallender Heißluftballon näherte, und erkannte dort etwas Viereckiges, eine Art Paket, gelb mit schwarzen Punkten.
Jaguarfell.
Jetzt kam es rasend schnell näher. Die Menge hatte den Ausgang aufgerissen und stürzte hinaus. Bietigheim dagegen stellte sich neben einen der Scheinwerferpfeiler, welche die Plane aufhalten würden. Dann sackte der schwere Stoff rasant in sich zusammen. Der Professor wartete nicht lange und machte sich auf den Weg in die Mitte, wo die Botschaft des Jaguarkriegers niedergegangen sein musste.
Da lag sie.
Eine kleine Box, eingeschlagen in künstliches Jaguarfell und verschnürt.
Der Professor holte sein Schweizer Offiziersmesser hervor, das er seit dem Auftauchen des Jaguarkriegers in Phinchens Schlafzimmer durchgehend mit sich führte, und schnitt vorsichtig die Schnüre auf, entfaltete das Jaguarfell und drückte schließlich mit der Klinge den hölzernen Deckel empor.
In der Box befanden sich Obsidiansplitter.
Und Pralinen von Cloizel.
Auch Blutspritzer waren unübersehbar.
Immerhin war nun klar, auf wessen Kopf die Guillotine eingestellt
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