Die letzte Praline
Weiß, so gehst du neben mir / Und die Liebe lacht aus jedem Blick von dir.« Normalerweise hörte er nur Klassik, vorzugsweise Wagner, doch bei Roy Black machte er eine Ausnahme. Der war schließlich so etwas wie der Wagner unter den Schlagersängern. Ohne sich dessen bewusst zu sein, summte Adalbert die Melodie und dachte an Hildegard zu Trömmsen – und dann auch ein wenig an Josephine-Charlotte Baels.
Einige Journalisten durften dank einer zusätzlichen Akkreditierung näher an die Teilnehmer heran, allerdings nicht hinter den Tresen, und auch Blitzlicht war verboten, um die Chocolatiers nicht zu stören. Vanessa Hohenhausen war völlig in ihrer eigenen Welt und gab der Wolke durch einen Zupfer hier und ein Aufbauschen dort Form und Fülle. Ihre Augen glänzten wie die eines Kindes, das die größte und schönste Sandburg seines Lebens errichtet hatte.
Als ein Fotograf ihr zu nahe kam, schreckte sie auf, sah ihm direkt ins Gesicht, stutzte. Dann schrie sie und zeigte auf den vor ihr stehenden bärtigen Mann mit der klobigen Brille.
»Das ist er!« Sie griff sich ihr schweres, marmornes Nudelholz und holte aus, doch der Mann floh in die Menge, warf Brille und falschen Bart fort und verschwand in der Masse der Zuschauer und Journalisten.
Vanessa Hohenhausen erspähte Bietigheim im Publikum. »Das war der Mann, der mich heute Morgen beobachtet hat. Ganz bestimmt!« Der Professor hatte ihn nur kurz gesehen, doch eines war klar: Dies war nicht der Jaguarkrieger. Dessen Statur war völlig anders.
Die deutsche Kandidatin war am Ende ihrer Nerven. Als sie zurück zu ihrer Küchentheke ging, stolperte sie, versuchte reflexartig, sich irgendwo festzuhalten – und riss dadurch ihren gesamten Kuchen auf den Boden.
Es war nur wenig später, als Bietigheim die Manege betrat, die Spots angingen und ihn blendeten. Nichts ging mehr, die Jury hatte ihre Entscheidung gefällt. Die gespannte Stimmung einer Opernpremiere lag unter der Zeltkuppel, die von der Meeresbrise sanft bewegt wurde. Die Sitze waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Medieninteresse stieg mit jeder Runde – und jeder Toten. Das Publikum hoffte zudem, die in der Manege aufgebauten Kreationen der Gewinner nicht nur sehen und fotografieren, sondern sie nach der Entscheidung auch probieren zu können. Doch da würden sie enttäuscht werden. Madame Baels lud am Abend die Sponsoren und ausgewählte Gäste zu sich ins Museum, wo die guten Stücke verspeist werden würden.
In der Mitte der Manege, deren Boden mit einer großen Plane bedeckt war, auf welcher ein Löwe prangte, stand ein Rednerpult samt eingebautem Mikrofon. Daneben das Podium für die vier Finalisten dieser Weltmeisterschaft. Vier andere würden sich jetzt aus dem Wettbewerb verabschieden müssen.
Adalbert zog seine Fliege zurecht. Den Sitz des Anzuges hatte er bereits zuvor penibel auf seinen Sitz kontrolliert. Nach einem kurzen, huldvollen Räuspern begann er in feinstem Oxford-Englisch mit seiner Rede, die er selbstverständlich auswendig gelernt hatte.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Vertreter der Medien. Eine gute Praline ist wie eine Zirkusattraktion. Sie lässt uns staunen, den Moment vergessen. Sie lässt uns fragen, wie so etwas möglich ist, obwohl wir es doch sehen oder vielmehr schmecken. Mit anderen Worten: Sie öffnet eine neue Welt. Unser Geruch ist der älteste unserer Sinne und eng verbunden mit dem Gefühlszentrum in unserem Gehirn. Wie nur wenigen anderen Genüssen – Wein ist einer davon, auch Käse, Tee, ein guter Whisky – gelingt es der Schokolade, uns emotional zu berühren – erst recht in Form einer Praline. Eine perfekte Praline ist wie ein süßer Kuss der sanftesten Lippen. Pures Glück.«
»Recht hast du, Adi!«, brüllte jemand aus dem Zuschauerraum. Wegen der Scheinwerfer konnte Adalbert ihn nicht sehen, aber die Stimme verriet, dass es sich um Wolfram handelte. »Wie ein Knutscher von meiner Elfi! Sag ich den Kunden auch immer«, setzte er hinterher.
»Männe, jetzt lass ihn doch mal ausreden. Kannst weitermachen, Adi! Ich halt ihm den Mund zu!«
Der Professor zog die rechte Augenbraue empor, räusperte sich abermals und presste ein Lächeln heraus. Weiter im Text. »Eine Praline ist ein komplexes, geradezu architektonisches Meisterwerk, in dem unsere Zunge für einen glücklichen Moment wohnen darf. Das perfekte Einzimmerappartement. Ein Kuchen ist im Vergleich dazu ein Schloss mit mehreren Etagen, manchmal sogar mit einer
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