Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
balancierten. Unter ihnen, in dreihundert Meter Tiefe, rollten die Wellen träge gegen die Felsen.
Sie kamen auf eine Art Plateau, legten die kleinen Rucksäcke ab, und Liam setzte sich auf einen Lavastein. Alanna tat es ihm nach und schmiegte sich an ihn, um sich gegen den Wind zu schützen.
Sie schwiegen lange, den Blick auf den Horizont gerichtet. Dann sagte sie ernst: »Ich glaube nicht, dass wir jemals glücklich sein können.«
Liam sah sie fragend an. Sie senkte den Blick auf das Meer.
»Wir sind hier«, sagte sie, »und vielleicht werden wir gerettet. Aber all die anderen?«
»Wir können nichts ausrichten«, seufzte er, die Augen auf den letzten Schnitz der Sonne gerichtet.
»Wir könnten sie rechtzeitig warnen.«
»Die Prophezeiung ist verbrannt«, antwortete Liam gefasst.»Die Vernichter haben erreicht, was sie wollten. Die digitale Katastrophe lässt sich nicht aufhalten.«
Alanna packte ihn am Arm und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Wir könnten sie noch rechtzeitig warnen«, wiederholte sie.
Liam griff zärtlich die Hand, mit der sie ihn gefasst hatte, und streichelte ihr die Wange. »Aber wer würde uns denn glauben? Ohne den Originaltext wären wir nur zwei Exaltierte mehr, die von der Apokalypse geifern. Man würde uns noch weniger Bedeutung beimessen als den Wissenschaftlern, die sich mit der Erderwärmung befassen …«
Sie machte sich los: »Aber wir wissen mit Sicherheit, was die Zahl bedeutet!«
»Das würde nur als eine unter den tausend Interpretationen gelten, die im Laufe der Jahrhunderte formuliert wurden«, schloss er niedergeschlagen.
In diesem Moment verschwand die Sonne.
Alanna schwieg eine Weile. Sie dachte erneut an das Mysterium des Glaubens, zu dem sie niemals Zugang finden würde. Dann wechselte sie das Thema und fragte Liam, ob die Polizei ihm Konstantins Ring zurückgegeben habe, der ihm zweifellos zustand.
»Es war das einzige Andenken an Molteni«, sagte sie, »und an diese Geschichte.«
»Der Ring?«, wunderte er sich. »Da unten ist alles geschmolzen. Nichts ist übrig geblieben.«
»Schade …«, murmelte sie. Sie stand auf, schulterte den Rucksack und stellte ihm eine letzte Frage, während zwei Tränen über ihre Wangen rannen: »Liam, sag mir wenigstens so viel: Bleibt uns noch ein wenig Zeit, für uns beide?«
Er antwortete nicht.
Er hob einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn in die Tiefe, weit hinaus ins Meer. Erst nach einer Weile, nachdemdas Springen des Steines vom Geräusch der Dünung verschluckt worden war, drehte er sich um und sah sie durchdringend an. »Seit Noahs Zeiten gibt Gott uns Mittel an die Hand, um weiterzuleben«, war sein rätselhafter Schlusssatz.
»Aber vor einer Minute hast du noch gesagt, dass die digitale Katastrophe sich nicht aufhalten lässt.«
»Auch die Sintflut ließ sich nicht aufhalten«, bemerkte er, und dann betrachtete er sie wieder stumm. »Aber wir sind immer noch da.«
Sie entdeckte in seinen Augen einen Schimmer der Hoffnung und umarmte ihn.
Dann nahmen sie einander an die Hand und stiegen weiter aufwärts, auf ihren provisorischen Himmel zu.
99
Ort: Klausurkloster der Benediktinerinnen Mater Ecclesiae
Weltzeit: Sonntag, 20. September, 21.00 Uhr (GMT)
Ortszeit: 23. 00 Uhr (00.00 Uhr Ortszeit in Nazareth)
Hochwürden Pater Notari, Hausarzt der Kurie in Novara, steckte sein Stethoskop in die alte Ledertasche und strich über die schweißnasse Stirn der Novizin.
»Strengt euch nicht an, Schwester, und versucht nun ein wenig zu schlafen. Ich werde Euch morgen früh wieder besuchen.«
Die Novizin lächelte ihn müde an, sie atmete schwer.
Dann erhob sich der greise Priester von dem Stuhl, der neben dem Bett stand, und bedeutete seiner Assistentin mit einem Blick, ihm zu folgen.
Kaum waren sie draußen, sagte er fast flüsternd zu ihr: »Schwester, verständigt die Äbtissin, dass die letzte Ölung vorbereitet werde. Sie wird die Nacht nicht überstehen. Dem Allmächtigen sei Dank.« Und dann ging er eilig, gebeugt vom Gewicht seiner Tasche und seiner undankbaren Aufgabe.
Schwester Maddalena stand seit vielen Jahren dem Ospedale della Pietà im Kloster vor, und viele Schwestern hatte sie vor das Angesicht des Herrn begleitet, aber keine war je so jung gewesen. Dies schien wirklich ein verfluchtes Jahr für das Kloster zu sein. Der Wille des Herrn geschehe, sagte sie sich still, während sie mit tränenerfüllten Augen zur Zelle der Äbtissin ging. Die anderen Schwestern waren
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