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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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er gerade »für mich« gesagt? Der Professor fragte sich, ob er in Luft aufgegangen sei, ohne es zu merken.
    Mademoiselle Leroy holte den ersten Wein sowie große Gläser, goss ein, schwenkte und nahm einen prüfenden Schluck. Sie spuckte nicht aus. Dann füllte sie ihr Glas abermals. Und trank es leer. Erst danach blickte sie auf und beschrieb den Tropfen in Worten, die so fein gesponnen waren wie ein Seidentuch.
    Doch der Wein schmeckte dadurch nicht besser.
    Er war grauenhaft. Das Blut einer alten Fledermaus konnte nicht widerlicher sein. Jan jedoch strahlte und ließ sich nachschenken. Auch er spuckte nicht. Der Professor dafür umso mehr. Jeden Tropfen dieses Gebräus wollte er aus seinem Mund entfernen, seine Geschmacksknospen waren schließlich von höchstem Wert.
    Es war Jan, der schließlich versuchte, das Gespräch auf Madame Poincaré zu lenken.
    »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich frage, aber wer ist denn verstorben?«
    »Wollen Sie darüber etwa auch in der Gazette de Côte d'Or berichten?«
    »Nein, um Gottes willen.« Fast sah es aus, als wollte er ihre Hand greifen. Doch dann faltete er die seinen.
    Mademoiselle Leroy schluckte. »Sie war eine … Tante.«
    Jetzt war Madame Poincaré sogar ihre Tante. Das wurde ja immer schöner!
    »War sie schon alt?«, fragte Jan nach.
    »Ja, ja, sehr alt.«
    »Wie ist sie denn gestorben? Musste sie lange leiden?«
    »Nein, es ging alles sehr schnell.«
    Der Professor hätte am liebsten gesagt: Vielleicht weil Sie ihr das Käsemesser in den Rücken gestoßen haben? Doch er hielt sich zurück.
    »Hatten Sie denn viel Kontakt?«, hakte Jan nach.
    »Einmal wöchentlich.« Die Antwort kam schnell und war ihr danach fast unangenehm. So, als hätte sie zu viel preisgegeben.
    »Dann standen Sie sich sehr nah?«
    »Sie war wie eine, ja, wie war sie eigentlich? Wie eine Lehrerin, eine strenge. Und doch ein Mensch mit zwei Seiten. Sie konnte geizig sein, aber auch sehr großzügig. Sie konnte einem die Ängste nehmen oder einen wütend machen. So wütend! Warum musste sie mich nur immer so wütend machen …«
    Jan war fantastisch! Der Professor nahm ihm sogar seine Anteilnahme ab. Da es ihm vor lauter Aufregung heiß wurde, öffnete er den obersten Knopf seiner Jacke. Darunter trug er noch immer die Käserei-Schürze – kein Wunder, dass er sich vorkam wie in einem Dampfgarer.
    Plötzlich hielt Mademoiselle Leroy inne und starrte den Professor an.
    »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick, ich muss dringend jemanden anrufen.«
    Sie rannte fast aus dem Zimmer.
    »Was ist denn passiert?«, flüsterte Jan dem Professor zu. »Es lief doch alles gut. Und egal, was du denkst, sie war es nicht.«
    »Der gleichen Ansicht bin ich auch.«
    »Niemals könnte eine Frau wie sie … Was hast du gesagt?«
    »Ich sehe die Sache wie du. Trotzdem hat sie etwas mit dem Mord zu tun. Und wäre sie nicht weggelaufen, hätten wir es vielleicht schon erfahren.« Er grübelte. »Oder auch nicht. Für die Wahrheit muss sie noch viel mehr Wein trinken. Obwohl sie bereits sehr aufgewühlt ist.«
    »Du kannst manchmal richtig widerlich sein.«
    »Ich bin nur logisch.«
    Als Mademoiselle Leroy wiederkam, sah sie überhaupt nicht logisch aus.
    »Raus! Alle beide!«
    »Aber …?« Jan hob die Arme wie ein Unschuldsengel.
    »Das ist wirklich das Allerletzte! Sich hier als Journalisten ausgeben und mich aushorchen. Was geht Sie das alles an?« Mademoiselle Leroy wandte sich an Bietigheim. »Sie verrückter Professor! Ja, ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Sie schließlich eben noch auf der Beerdigung gesehen. So einer wie Sie fällt da auf. Zuerst habe ich mich nicht erinnert, aber als ich dann Ihre weiße Schürze bemerkte, wusste ich Bescheid und habe gleich unseren Pfarrer angerufen. Und jetzt scheren Sie sich raus. Ich will Sie beide nie wieder sehen!«
    »Aber …« Jan startete einen neuen Anlauf.
    »Raus!«
    Sie drückte die beiden vors Haus und warf die Tür scheppernd hinter ihnen ins Schloss. In einem Buster-Keaton-Stummfilm wäre von der Wucht das ganze Gebäude umgefallen.
    Jan lehnte seine Stirn gegen die gemauerte Wand. »Aber … scheiße!«
    »Ich hätte es nicht ganz so blumig ausgedrückt«, sagte Bietigheim, »aber in der Sache hast du vollkommen recht.«
    Die Flüssigkeit stammte aus dem vierten Magen eines noch Milch saugenden Wiederkäuers (in diesem Fall eines Kalbs), nannte sich Lab und wurde nun vom Professor zur warmen, pasteurisierten Milch gegeben. Dadurch entstand »feste

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