Die letzte Reifung
Milch«, die Gallerte, welche zum Bruch geschnitten und von der Molke getrennt werden musste.
Über die Molke freuten sich die Schweine.
Über das, was aus dem Bruch wurde, der Professor.
Die Hauptarbeit in der Käserei blieb allerdings das Putzen. Egal, ob Abtropftische, Kessel, Formen und Werkzeuge, Käsebretter oder einfach nur die Böden – alles musste gesäubert, gebürstet, geschrubbt und abgespritzt werden. Sämtliche Putzeinheiten waren zudem samt exakter Uhrzeit auf Klemmbrettern festzuhalten. In Monsieur Vesnins Betrieb wurden fraglos mehr Protokolle als Käse produziert.
Diesen Ordnungssinn schätzte der Professor zwar, war aber trotzdem froh, nun eine andere Arbeit verrichten zu dürfen. Jetzt galt es, den Bruch in Formen zu schöpfen, ihn zu pressen und danach in ein Salzbad zu tauchen. Der Käsegeschmack entstand dann während der Reifung durch die Milchsäuregärung sowie den Abbau von Fett und Eiweißstoffen im Käselaib.
Genau so erklärte es der Professor seinen Studenten.
Doch jetzt war es sechs Uhr morgens und Bietigheim hatte keinen, dem er sein Wissen weitergeben konnte. Dabei brauchte er dringend jemanden, mit dem er über all die Spuren und Hinweise reden konnte, die in seinem Kopf schäumten wie Federweißer. Lediglich Monsieur Vesnin befand sich bereits in der Käserei – und der stand für den Professor ganz klar unter Mordverdacht. Egal, wie putzig der kleine Käser auch aussehen mochte.
Durchs Fenster konnte er sehen, wie Monsieur Vesnin gerade draußen bei seiner Lieblingsherde stand. Sie war nicht im Hauptstall untergebracht, sondern hatte eine eigene, perfekt klimatisierte Behausung samt Panoramafenstern zum Hinausschauen und bekam das beste, mit Bergkräutern angereicherte Futter. Diese Kühe gaben die Milch für das nur in geringer Menge produzierte Prunkstück des Hauses, den mit Marc de Bourgogne eingeriebenen Thillon.
Bietigheim tauchte gerade die nächste Fuhre in Salzlake, als vor ihm ein unfassbar runder Käse aus der trüben Flüssigkeit auftauchte, weiß wie der Mond in einer strahlenden Nacht und von so vollkommener Form, dass der Professor seinen Blick nicht davon lösen konnte.
»Na, du.«
Das Morgenlicht spiegelte sich in dem feuchten Käse.
»Du kleiner Käse, du.« Er stupste ihn mit der Fingerspitze an. »Bist ja ganz ein Hübscher.«
Der Käse antwortete nicht. Doch irgendwie gewann der Professor den Eindruck, einen guten Zuhörer vor sich zu haben.
»Sag mal, du als Käse, was meinst denn du, wer eine Käserin wie Madame Poincaré umgebracht haben könnte? Pass auf, ich erkläre dir, wer in Frage kommt. Da hätten wir zum einen Mademoiselle Leroy, eine junge Winzerin aus Nuits Saint Georges, die Schuld auf sich geladen und mit Madame Poincaré gestritten hat. Nur worüber und wann? Und warum behauptet sie, dass die Käserin ihre Tante gewesen sei?«
Der Käse trocknete etwas an der Oberfläche.
»Dann die Clochards. Warum ist die Madame von einem Tag auf den anderen spendabel geworden? Scheinbar ja auch der Kirche gegenüber. Selbst der Papst lässt seine Anteilnahme ausrichten, der Papst !«
Der Käse sah nun richtig lecker aus.
»Und weißt du, wem ich ebenfalls nicht traue? Dem Bürgermeister. Dieses ganze Verheimlichen eines Mordes wegen eines Käsefests. Würdest du dich von so einem essen lassen? Na? Ich mich auch nicht!« Der Professor musste lächeln, als er sich Jules Bigot als Kannibalen vorstellte. Wobei, wenn einer fähig wäre, Menschen zu essen, dann dieser Bursche. »Nachdem ich erfahren habe, dass er der größte Bauunternehmer vor Ort ist, habe ich Nachforschungen anstellen lassen. Von meinen studentischen Hilfskräften, daheim im schönen Hamburg. Die sollen schließlich nicht denken, die vorlesungsfreie Zeit sei dazu da, eine ruhige Kugel zu schieben! Folgendes ist mir gestern Abend mitgeteilt worden: Jules Bigot lebt mit seiner Schwester in Epoigey, er war nie verheiratet, was nicht bedeutet, dass sein Interesse eher dem eigenen Geschlecht gilt. Ganz im Gegenteil. Es gehen sogar Gerüchte, dass er nur deshalb immer wiedergewählt wird, weil all seine unehelichen Kinder für ihn stimmen müssen. Nun zu seiner Politik: Trotz vollmundigen Versprechen hat er es nicht geschafft, die Touristenzahlen, vor allem die der Schlafgäste, in Epoigey zu steigern. Sein Plan eines Käsespielparks für Kinder im Grundschulalter – mit Käsebimmelbahn, berühmten Käse in überlebensgroßen Modellen, 3-D-Käsekino und Kuhkarussell – wurde zum
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