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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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schattiges Plätzchen gesucht und bis zum Einbruch der Dunkelheit Siesta gehalten. Dann hätte er nett gegrillt, am liebsten ein ganzes Schwein.
    Pit konzentrierte seine Suche deshalb auf die schattigen Seitenstraßen, abseits der Restaurants und Feinkostläden, die seinen Bauch anlockten, verführerisch wie Loreley persönlich. Um nicht den Verstand zu verlieren, hatte er sich ein paar Andouilles gekauft, die im Wesentlichen aus dem Gekröse von Schlachttieren bestanden.
    Die Tüte war leer, ehe er um die nächste Ecke bog.
    Dabei hatte sein Begleiter Benno von Saber nur ein kleines Würstchen abbekommen.
    Pit hoffte sehr, heute eine echte Spur zu finden. Denn dann wäre der Professor glücklich, und wenn er glücklich war, kochte er. Und wie er kochte! Küchenklassiker, deren Rezepte er bis aufs Gramm recherchiert hatte. Natürlich verwendete er nur die besten Zutaten, und so verrückt der Professor auch sein mochte, er würzte wie ein Gott, hatte keine Angst vor Sahne, Schmand, Crème fraîche und stellte immer den passenden Wein auf den Tisch. Bietigheim kochte alles – nur nichts mit Minze. Die verabscheute er mehr als der Teufel das Weihwasser.
    Pit war derart in Gedanken, dass er fast gegen einen Baum gerannt wäre, der plötzlich vor ihm auftauchte. Unberechenbar diese Dinger.
    Darunter lag … ein Clochard.
    Treffer!
    Pit setzte sich neben ihn und reichte seinen Flachmann hinüber, gefüllt mit Linie-Aquavit. Zwar nicht eiskalt, aber gesund war das Zeug auch ungekühlt.
    Der Mann erwachte und griff mit sicherer Hand zu.
    »Kennst du eine Madame Poincaré?«
    Als der Bursche den Kopf schüttelte, riss Pit ihm den Schnaps wieder aus der Hand. »Sicher?«
    Nicken.
    »Tut mir leid, Meister.« Pit erhob sich wieder. Doch als er die traurigen Augen des Clochards sah, wurde sein großes Herz weich. »Okay, aber nur einen Schluck!«
    Es wurde ein langer Schluck. Pit wartete ab. Beim Trinken störte man einfach nicht.
    Drei Clochards später war sein Flachmann leer, weswegen er eine Flasche Crème de Cassis kaufte. Das war ohnehin ortstypischer. Außerdem fiel es Pit um einiges leichter zuzusehen, wie die Flasche sich leerte, denn der schwarze Johannisbeerlikör war ihm viel zu süß.
    Der Flascheninhalt war bereits auf die Hälfte geschrumpft, als er ihn traf.
    Er saß im Parc de la Colombière, am Ufer der Ouche. Pit bemerkte erfreut, dass er die Augen offen hatte und diese zudem aussahen, als habe er sich noch nicht komplett das Hirn weggesoffen.
    »Hallo, ich bin Pit. Ist der Platz hier noch frei?«
    Der Clochard klopfte auf den Rasen neben sich. »Diese bequeme, naturgepolsterte Sitzgelegenheit stelle ich dir gerne zur Verfügung.«
    Pit ließ sich langsam auf dem Boden nieder, um Dijon nicht unnötig zu erschüttern. »Wie heißt du?«
    »Nenn mich einfach Dow Jones, das machen alle. Wegen des Aktienindexes, weißt du.«
    »Nee, weiß ich nicht.«
    »Ich war früher Investmentbanker, aber ich habe es schon vor der Krise nicht mehr ausgehalten und mich entschieden, auf der Straße zu leben. Frei wie der Wind, verstehst du?«
    Pit kannte kaum Investmentbanker, aber dieser Clochard sah definitiv nicht wie einer aus.
    »Klar«, erwiderte er trotzdem. »Kann ich gut verstehen, dass du dem Job den Rücken gekehrt hast.«
    Dow Jones lächelte zufrieden. Seine Zähne waren überraschend gut in Schuss. Nicht einer fehlte, und in dem dreckigen Gesicht blitzten sie wie Perlen.
    »Und was machst du so?«, fragte Dow Jones.
    »Taxifahren«, sagte Pit nicht ohne Stolz. »Aber von Haus aus bin ich Rocker. Und ich schreibe einen Krimi.«
    »Ach, echt?«
    »Ja. Seit zwölf Jahren. Der wird richtig gut.«
    »Musst du mir unbedingt geben, wenn er fertig ist.«
    Okay, die Freundschaft war geschlossen, sogar ohne Crème de Cassis. »Willst du einen Schluck?«, fragte Pit trotzdem.
    »Nein, ich lebe abstinent. Auch mit dem Rauchen hab ich aufgehört. Zerfrisst dir die Lunge.«
    Dow Jones war komisch. Aber auf eine gute Art. Deshalb stand Pit auf, entschuldigte sich kurz, kaufte im nächsten Supermarkt einen Epoisses, dazu in der Bäckerei ein frisches Baguette und teilte alles brüderlich mit dem Clochard.
    »Ich suche wen, der jemanden kennt. Und zwar eine Madame Poincaré.«
    »Gefunden«, antwortete Dow Jones. »Was willst du wissen? Madeleines Adresse?«
    »Sie ist tot.«
    Dow Jones hörte auf zu kauen. »Scheiße, 'ne tolle Frau.«
    »Kanntest du sie gut?«
    »Hab drei Mal bei ihr Urlaub gemacht. Bist du etwa von der Polizei?

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