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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Siehst nicht so aus.«
    »Nur ein Freund der Familie. Ich habe die Zinken am Haus gefunden.«
    »Du meinst die neuen?« Dow Jones nahm sich den Rest des Baguettes. Er hatte wirklich einen gesunden Appetit.
    »Gibt es auch alte?«
    »Am Baum, wenn sie nicht endlich einer abgeritzt hat. Das ist nämlich eine interessante Geschichte mit der Madeleine. Die alten Jungs haben mir erzählt, dass es früher in Epoigey kein einziges Haus gegeben hat, in dem man auch nur irgendwas bekommen hätte. Inklusive Madeleines. Vom Hof verscheucht hat sie damals alle. Doch dann, das muss jetzt rund vier Jahre her sein, änderte sich das von einem Tag auf den anderen.«
    »Wie habt ihr das denn rausgefunden? Die alten Zinken haben doch sicher vor ihr gewarnt?«
    »Klar, es klopfte ja auch niemand – sie kam raus! Der einohrige Nicolas machte gerade ein Nickerchen auf der Dorfwiese. Der kann überall pennen, egal, welcher Lärm um ihn herum tobt. Und sie lud ihn auf eine Tasse Kaffee und ein Käsebrot ein. Er hatte Schiss, logisch. Aber noch mehr Durst und Hunger. Also ging er mit.«
    Dow Jones zog sich seelenruhig Schuhe und Socken aus und tauchte die Füße in die kühle Ouche.
    »Und?«, hakte Pit nach.
    »Wie ein König, so hat sie Nicolas behandelt. Der bekam nur das Beste zu essen. Und ein warmes Bett.«
    »Ich habe die beiden Kreise gesehen.«
    »Die beiden Kreise. Tja, die hat er gemalt. Aber nach dieser Nacht hat sie nie mehr einen von uns zu sich in die Kissen geholt. Und glaub mir, Dicker, das haben einige versucht. Sie war nicht die Jüngste, klar, aber irgendwann stellst du keine hohen Ansprüche mehr und bist glücklich über ein bisschen Zärtlichkeit. Falls du willst, kannst du mit in meinen Karton kommen, in der Nähe der Basilique Notre-Dame-de-Fourvière – wenn die Straßenreinigung ihn nicht wieder mitgenommen hat. Guter Platz, da kriegst du viel zusammen, wenn du einen schönen Hut hast.«
    So nett Dow Jones war, Pit konnte sich Schöneres vorstellen.
    »Aber bei Madame Poincaré konnte man weiterhin übernachten und was essen?«
    »Berge! Ich bin einmal extra wegen des Essens zu ihr und fast eine Woche geblieben. Und ich war nicht der einzige Clochard dort. Das war fast wie im Hotel, nur dass Kost und Logis frei waren. Aber man musste immer darauf achten, nicht gesehen zu werden, wegen der Nachbarn. Das war der Madame wichtig, keiner durfte davon wissen. Deshalb sind wir immer erst nachts gekommen und nicht von der Straße, sondern über die Wiese.«
    »Und es gab nie Streit, keiner wollte ihr etwas Böses?«
    »Wieso fragst du?«
    »Weißt du, wer als Letzter bei ihr war? Und wann?«
    »Nee, da führt doch keiner Buch. Aber in den letzten zwei Wochen sicher keiner. Da waren hier in Dijon kulinarische Wochen. Das ist wie Weihnachten und Ostern zusammen. Sogar Sterneköche kommen, und den Touristen sitzt die Börse locker.« Dow Jones lehnte sich näher. »Holst du noch eine Runde Käse und Baguette? Und dann machen wir es uns in meinem Karton gemütlich …«
    Mit einem Mal fiel Pit ein unwahrscheinlich dringender Termin ein. Doch bevor er sich davonmachte, holte er für Dow Jones noch ein schönes, frisches Baguette und ein großes Stück Beaufort. Unter Brüdern der Straße.
    Gérard war Gott sei Dank nur ein bisschen tot. Ein Schwächeanfall, wobei man zugeben musste, dass er mit seinen offen stehenden Augen tatsächlich aussah, als hätte er sein letztes Glas Pinot getrunken.
    Der Notarzt kam schnell, und als er wieder weg war, herrschte eine geradezu gelassene Atmosphäre. Es war doch nur Madame Poincaré zu betrauern! Alles halb so schlimm. Es wurde sogar gelacht.
    Monsieur Vesnin sah aus, als wollte er noch etwas länger bleiben, so sehr genoss er die Aufmerksamkeit, welche ihm heute zuteilwurde. Vor allem von Seiten der Gastronomen.
    Ihm fiel gar nicht auf, dass der Professor sich aus dem Staub machte. Bietigheim hatte vor, zur Nachmittagsschicht pünktlich zurück in der Käserei zu sein, und musste die Zeit bis dahin effektiv nutzen. Er wollte der jungen Frau aus dem Beichtstuhl hinterher, solange sie noch aufgebracht war und sich nicht unter Kontrolle hatte, denn nur so hatte er die Chance auf ein Geständnis. Der Mord an Madame Poincaré wäre aufgeklärt, die Täterin überführt und seine Tour de Fromage könnte endlich weitergehen. Er brauchte lediglich einen guten Vorwand, der ihm die Haustür öffnete und am besten gleich noch ein Gespräch mit der Unbekannten ermöglichte.
    Als

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