Die letzte Reifung
nicht gehen«, sagte Pit. »Madeleine hat so lange auf Sie gewartet, da machen ihr ein paar Jahre mehr auch nichts aus.« Erst jetzt fiel ihm auf, dass er noch immer Gérards Hand hielt. Er ließ sie nicht los.
In die Stille brach das Geräusch der sich öffnenden Zimmertür. Die Schwester kam zurück, neben ihr der behandelnde Arzt.
»Oh, Ihr Großvater ist wieder wach?« Der Arzt grinste. «Sie müssen mir unbedingt verraten, wie der Käse heißt, der ihn wieder aufgeweckt hat. Dann gibt's den hier bald auf Rezept!«
Schlaf war ein Luxus, den sich Adalbert Bietigheim in dieser Nacht nur kurz leistete. Immer wieder wendete er seine Mord-Theorie hin und her wie einen störrischen Pfannkuchen, der einfach nicht fertig werden wollte. Er hatte eine Vermutung, doch noch passte nicht alles zusammen. In der Wissenschaft mussten Vermutungen untermauert, belegt, bewiesen werden. Er hatte nichts als eine Idee. Und die würde nicht reichen, um den Täter zu einem Geständnis zu zwingen.
Der Schlaf war schließlich wie ein K.O.-Schlag über ihn gekommen. Geweckt wurde er von einem Beinahe-Herzinfarkt.
Es stand jemand am Ende seines Bettes und dem Geräusch zufolge weder Pit noch Jan.
Aus Sicherheitsgründen hielt er es für das Klügste, die Augen geschlossen zu halten.
Bis er an den Füßen gekitzelt wurde.
»Einen wunderschönen guten Morgen, Professor. Die Sonne lacht schon.«
Diese Stimme! Eine Frau, eine junge Frau, er kannte sie. Nur wer…? Er setzte die Brille auf. »Rena?«
Seine wissenschaftliche Hilfskraft nahm auf der Bettkante Platz und hielt eine Bäckertüte hoch. »Ich habe Ihnen Croissants mitgebracht. Der Kaffee ist schon durchgelaufen. Kann ein Tag besser anfangen?«
Ja, dachte der Professor, gesittet und ohne Studentin im Zimmer. Doch das würde er Rena nicht sagen. Auch wenn es ihre Laune nicht trüben würde, die war nämlich unerschütterlich. Verbunden war diese gute Laune mit der schlechten Eigenschaft, ihn ständig zu necken. Was sich für eine Studentin nicht gehörte. Doch Rena – eigentlich Verena – hatte das seit ihrem ersten Arbeitstag kein bisschen gestört. Rena hatte, wie sie selbst sagte, eine Dirndl-Figur, trug aber partout Bluejeans. Neben der Anstellung als wissenschaftliche Hilfskraft arbeitete sie an ihrer Abschlussarbeit zum Thema »Sahnesaucen der schwäbischen Alb im frühen zwanzigsten Jahrhundert aus familienpsychologischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung der Großmütter«. Als Referenz an ihre Heimat trug sie die Haare stets zu einem kunstvollen Dutt gezwirbelt. Doch als Erstes fielen jedem ihre blitzenden Augen auf. Der Professor verstand heute noch nicht, warum er dieses Warnsignal beim Bewerbungsgespräch übersehen hatte.
»Wie sind Sie rein…?«
»Die Tür war nicht abgeschlossen.«
»Aber warum denn gleich in mein Zimmer?«
»Ich dachte, Sie freuen sich! Freuen Sie sich etwa nicht?«
»Doch, ja, schon. Aber trotzdem.«
»Ich hab sogar noch ein Geschenk mitgebracht. Auf meinem Weg zu Ihnen habe ich nämlich bei McDonald's Pause gemacht. Gut, was? Und da gab's das hier zu lesen. Schon gesehen?«
»Das heißt: Haben Sie das schon gesehen, Herr Professor.« Als Bietigheim sich den Zettel greifen wollte, zog Rena ihn fort. «Jetzt geben Sie schon her! Geschenke übergibt man dem Beschenkten traditionellerweise ohne Faxen.«
»Bitte schön.« Sie lachte ihn an.
Unerträglich diese Fröhlichkeit! Vor allem morgens.
Doch ihr Besuch bei der amerikanischen Burger-Kette war lobenswert. Schon seinen Erstsemestern schärfte Bietigheim ein, dass es kaum bessere Möglichkeiten gab, Einsicht in die kulinarischen Vorlieben eines Volkes zu gewinnen als durch einen Besuch der Supermärkte und Fast-Food-Restaurants. Es waren die kleinen Unterschiede in der Produktauswahl, die Frage, ob der Hamburger Royal plötzlich Quarterpounder hieß oder ob die Salate groß auf den Werbetafeln oder verschämt im Kleingedruckten dargeboten wurden, die einem wachen Verstand viel verrieten.
Auf dem von Rena mitgebrachten Werbezettel pries McDonald's seine kommende Sonderaktion an: »Fromage fantastique.« Es gab eine Käseplatte mit vier kleinen Stückchen Käse, einen McFromage, panierte Käsestäbchen und eine spezielle Käse-Sahne-Sauce für die McNuggets. So weit, so unspektakulär. Doch die Informationen über die vier kleinen Käsestücke sandten einen Elektroschock durch das Rückgrat des Professors. Sie stammten von den Käsereien Poincaré, Vesnin, Égly Ouriet und
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