Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
schäbiges Apartment in Georgia mit seiner hohen Decke und seinem schiefen Holzfußboden schien zu atmen und zu wachsen, und das nicht nur wegen der Küchenschaben oder des Schimmels im Bad, das sie in Terrarium umbenannt hatte. Nein, in den schwülen Augustnächten, in denen sie wach und nackt unter dem klappernden Deckenventilator lag, schwitzten und stöhnten die Wände, als würden auch sie die Hitze fühlen.
Während der vier Jahre ihres Medizinstudiums hatte Grace einen Wissensdurst gezeigt, der ihre Professoren genauso oft verstörte, wie er sie beeindruckte. Während die anderen Studenten Leichen mit einem vornehmen Ekel sezierten, schnitt sie, von der Entschlossenheit getrieben, genau herauszufinden, wie jeder Knochen und das Gewebe und die Nerven miteinander verbunden waren, mit einer solchen Intensität in ihre Studienobjekte hinein, daß einer ihrer Anatomieprofessoren ihr den Spitznamen Michelangela verlieh. Sie schenkte ihm lediglich ein schmallippiges Lächeln und schnitt weiter. Sie graduierte als Elfte ihres Jahrgangs und nicht als Erste. Die höheren Positionen blieben Leuten vorbehalten, die zugänglicher, nicht so intelligent und entwaffnend waren. Natürlich erforderten nicht alle Spezialgebiete ein Einfühlungsvermögen für den Patienten, und ihr Studienberater Dr. Jason Briggs war der Meinung gewesen, sie an einer hervorragenden Stelle untergebracht zu haben. Dann informierte sie ihn, daß sie die Assistenzarztstelle in der Radiologie – die Traumspezialisierung eines jeden Medizinstudenten, der sich nach der Mitgliedschaft in einem Country Club sehnte – abgelehnt und statt dessen eine in der Notfallmedizin angenommen hatte, und zwar in einem öffentlichen Krankenhaus, was die Sache noch schlimmer machte. Außer sich vor Wut hatte er ihr gesagt, sie würde einen dummen Fehler machen. Grace hatte genickt und war in ihr Apartment gegangen, wo sie ihre Besitztümer zusammenpackte – die noch immer problemlos in ihren alten Mustang paßten –, und nach Colorado zurückgekehrt. Sich zu verabschieden war nicht schwer gewesen. Sie hatte keine echten Freundschaften geschlossen, und die Kakerlaken würde sie ohnehin nicht vermissen.
Jetzt befand sie sich in ihrem dritten Jahr ihrer praktischen Ausbildung im Denver Memorial Hospital, und die gelegentlichen Briefe von Dr. Briggs waren immer seltener eingetroffen und hatten schließlich ganz aufgehört. Natürlich hatte Dr. Briggs bei Grace genauso falsch gelegen wie Ms. Adara von der Denver Post. Nicht, daß sie es interessiert hätte. Das hier war der Ort, an den sie gehörte, und das war alles, was andere über sie wissen mußten. Heilen war eine seltsame und bittersüße Vergeltung.
Grace verließ die Toilette und schlug die Richtung zum Empfangsbereich der Notaufnahme ein. Er lag fast verlassen da. Ein paar Leute versuchten auf den Plastikstühlen zu dösen, während sie auf Neuigkeiten über Freunde oder Angehörige warteten. Eine untersetzte Krankenschwester schwebte vorbei, völlig lautlos auf ihren engelweißen Kreppsohlen. Grace sah nach, aber es warteten keine neuen Patientenblätter. Keiner mehr da. Sie ging durch die Tür neben dem Eingang zur Notaufnahme und nahm eine Abkürzung zum Aufenthaltsraum, als sie eine verkrümmte Gestalt auf einer Trage entdeckte. Da war also doch noch jemand, der sie brauchte. Sie trat einen Schritt darauf zu.
»Der gehört mir, Grace.«
Überrascht drehte sie sich um und blickte in ruhige braune Augen. Sie gehörten einem schlanken Schwarzen mit einem grau durchsetzten Bart.
Wenn Grace im Denver Memorial so etwas Ähnliches wie einen Freund hatte, dann war das Leon Arlington. Leon war der Schichtverwalter der Leichenhalle. Er arbeitete schon so lange mit Toten, daß er im Laufe der Jahre einige ihrer Gewohnheiten angenommen hatte, von seiner beherrschten Ruhe bis zu seinem gelassenen und leicht abwesenden Blick. In der letzten Zeit hatten nur wenige von Graces Patienten die letzte Aufzugfahrt zu Leon angetreten. Sie kämpfte darum, die Zahl auf Null zu reduzieren.
Leon deutete mit dem Kopf auf die in der Ecke stehende Trage, und Grace blickte über die Schulter und sah, wie eine Schwester ein Laken über die reglose Gestalt breitete. Sie atmete aus. Der Adrenalinstoß, der sie stets ohne weiter nachzudenken von einem Patienten zum nächsten eilen ließ, löste sich in Wohlgefallen auf und hinterließ in ihr ein Gefühl der Schwäche und Leere.
»Kommen Sie«, sagte Leon mit seiner rauhen Stimme.
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