Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
»Trinken wir einen Kaffee.«
»Ich erinnere mich wieder an sie«, sagte Grace ein paar Minuten später. Sie saßen inmitten einer Reihe grüner Vinylstühle. Sie nahm einen kleinen Schluck aus dem Plastikbecher; der Kaffee war heiß und bitter. »Ich habe sie selbst untersucht. Sie gehörte zu den Brandopfern aus dem Wohnhaus. Ein Blick, und ich wußte, daß ihre Lungen zerstört waren. Und sie wußte es auch.« Grace schüttelte erstaunt den Kopf, dann sah sie Leon an. »Wie kommt es, daß die Menschen immer wissen, daß sie sterben werden? Wir verbringen Jahre damit zu lernen, die Anzeichen richtig zu deuten, aber sie scheinen es einfach zu wissen. Ich konnte es in ihren Augen lesen. Und wissen Sie, was ich tat? Ich lächelte sie an, und dann wandte ich mich ab und ging zu jemandem, den ich retten konnte. Jeder der anderen Ärzte hätte das gleiche getan.«
Einen Augenblick lang erinnerte sie sich an die strahlend blauen Augen der Frau, die in der vom Feuer geschwärzten Ruine ihres Gesichts wie zwei Juwelen geleuchtet hatten.
Sie schüttelte den Kopf. »Was ist nur mit unseren Herzen passiert, Leon?«
Leon zuckte mit den Schultern. »Sie haben bloß getan, was man von Ihnen erwartet, Grace.«
»Das weiß ich.« Sie musterte sein schmales, dunkles Gesicht, in der Hoffnung, dort etwas von der so mühelos erscheinenden Ruhe zu finden, das sie für sich behalten konnte. »Aber habe ich auch getan, was richtig gewesen wäre?« Sie trank einen weiteren Schluck Kaffee, verzog das Gesicht, als er ihr die Zunge verbrannte, und schluckte ihn trotzdem hinunter. »Manchmal frage ich mich, ob ich nicht einfach nur das Leiden verlängere. Ich habe diese Frau leiden lassen, damit ich einen Mann am Leben erhalten konnte, der sich mindestens einem halben Dutzend Hautverpflanzungen unterziehen müssen und den Rest seines Lebens schrecklich entstellt bleiben wird. Schmerz für Schmerz. Ist das ein fairer Handel?«
Sie verstummte. Leons Gesicht blieb einen langen Augenblick ausdruckslos, und als er endlich eine Reaktion zeigte, fiel sie ganz anders aus als erwartet.
Er grinste. »Ich weiß nicht, Grace, aber Sie wären über die Zahl der Leute überrascht, die, falls man sie vor die Wahl stellte, sich für das gute alte Leiden entschieden. Was glauben Sie, wie sich der Mann entscheiden würde, den Sie gerade nach oben geschickt haben? Die Schmerzen des Lebendigseins zu erdulden? Oder in einem meiner Schubfächer unten zu schlafen?« Leon lachte fröhlich. »Ich weiß auf jeden Fall, wie ich mich entscheiden würde.«
Grace fragte sich, ob sie so sicher sein könnte. Sie blickte auf die Uhr an der Wand. Fünf Uhr nachmittags. Ihre Schicht hatte vor einer Stunde geendet; nicht daß man hier dem offiziellen Arbeitsbeginn und dem Schichtende große Bedeutung zumaß. Sie stand auf und rieb sich mit der Hand den Nacken.
»Ich verschwinde hier, solange ich noch kann. Eine ruhige Nacht, Leon.«
»Oh, die habe ich doch immer«, sagte der Leichenhallenverwalter und tippte an eine imaginäre Hutkrempe.
Auf dem Weg nach draußen sah Grace kurz in dem Büro vorbei, das sie mit einigen der anderen Assistenzärzte teilte, um den weißen Kittel abzulegen und Aktenkoffer und Pieper zu holen, dann ging sie in Richtung Hinterausgang. Wenn sie diesem Ort wirklich entfliehen wollte, war es besser, nicht gesehen zu werden. Eine Automatiktür glitt auf, und sie trat hinaus in den Spätherbstabend. Das Licht der nach Westen ziehenden Sonne wärmte ihre Wangen, und sie atmete die kühle Luft ein. Der Verkehr rauschte an ihr vorbei wie ein Zug leuchtender Wanderameisen, die alles vernichteten, was ihnen im Weg stand. Grace war zu Fuß unterwegs. Sie bog in die mit Bäumen gesäumte Seitenstraße ein und versuchte die nächsten zwölf Häuserblocks nicht darüber nachzudenken, ob sie die Welt heute zu einem besseren oder schlechteren Ort gemacht hatte.
9
Zwanzig Minuten später stieg Grace die Stufen zu ihrem Apartment im ersten Stock hinauf. Sie schloß die Tür auf, von der sich die Farbe schälte. Drinnen tastete sie im Halbdunkel umher, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte. Das elektrische Licht der Deckenlampe ging mit dem, was es vorfand, nicht sanft um. Was im Jahre 1923, als Saint Tropez gebaut wurde, frisch und modern gewesen war, hatte sich seitdem in etwas Schäbiges und Häßliches verwandelt. Die weiße Farbe, die man auf die Gipswände geklatscht hatte, schimmerte nun so gelblich wie ein altes Hochzeitskleid, und der grüne
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