Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
beugte sich über ein angeschlagenes Waschbecken und spritzte sich in dem Versuch, Müdigkeit und Blutgeruch abzuwaschen, Wasser auf Gesicht und Nacken. Dann kämmte sie sich mit den feuchten Fingern durch das kurze, aschblonde Haar. Mit einem Ruck richtete sie den weißen Kittel, den sie über der Bluse und den Baumwollhosen trug, und betrachtete ihr Abbild im Spiegel – nicht um zu sehen, ob sie attraktiv aussah, sondern um festzustellen, ob sie einen fähigen und professionellen Eindruck machte. Schönheit interessierte Grace nicht, obwohl sie wunderschön war. Sie war eine hochgewachsene, dreißigjährige Frau, schlank und linkisch mit einer beinahe steifen Haltung, die dabei jedoch über eine subtile Eleganz verfügte. Wäre ihre Stimme eine Substanz gewesen, hätte sie Rauch, Buttertoffee oder auch ein guter Cognac sein können. Grace benutzte niemals Kosmetik, und obwohl sie ihre Züge als scharf geschnitten empfand, beschrieben andere sie als wie gemeißelt oder sogar majestätisch. Sie war sich nicht im mindesten darüber im klaren, daß ihre grün-goldenen Augen die Macht zum Verzaubern hatten.
»Das wird schon reichen«, murmelte sie ihrem Spiegelbild zu.
Sicher, ihre Haut war zu blaß, aber es gab nichts, was sie daran hätte ändern können. Sie verbrachte zuviel Zeit im Neonlicht der Notaufnahme und viel zuwenig in der Sonne Colorados. Sie traf den Vorsatz, im nächsten Sommer zu versuchen, öfters an die frische Luft zu kommen, obwohl sie doch genau wußte, daß daraus nichts werden würde. Warum sollte sie auch, wenn alles, was sie brauchte, hier war?
TEENAGER STUDIERT MEDIZIN, hatte die Schlagzeile verkündet. IM GEDENKEN AN ELTERN, DIE SIE NIE KANNTE.
Die Zeitungen griffen solche Themen begeistert auf. Es rangierte unter der Rubrik Zwischenmenschliches. Grace besaß den vergilbten und steifen Ausschnitt noch heute; er lag zwischen den Seiten eines High-School-Albums, sie war jedoch zu zynisch, um es aus dem Karton zu holen, und zu sentimental, um es in den Müll zu werfen. Das Foto zeigte eine spindeldürre Sechzehnjährige, die einen viel zu großen Laborkittel trug und deren geschorenes Haar wie mit dem Skalpell abgehackt aussah. Sie hielt einen Totenschädel in der Hand und starrte mit einem ernsten Ausdruck in die Kamera, der nicht ganz den Funken grimmigen Humors in ihren Augen verbergen konnte. Aber die hübsche Reporterin hatte sich vor dem Schädel geekelt, und das war eine Schwäche, die Grace schon als Kind witzig und – was noch wichtiger war – verachtenswert gefunden hatte.
»Also, Kindchen«, hatte Colleen Adara von der Denver Post an dem offensichtlich so köstlichen Kaugummi vorbeigequetscht, »Sie haben Ihre Eltern nie kennengelernt, ist das so richtig?«
»Nein, das habe ich nicht«, hatte Grace erwidert. »Denn sie sind gestorben, als ich noch ein Baby war … und zwar alle beide.«
Bei dem letzten Wort hatte sie der Reporterin den Schädel unter die Nase gehalten, des dramatischen Effektes wegen. Ein Ausdruck des Entsetzens hatte sich auf Ms. Adaras perfekt geschminktem Gesicht ausgebreitet wie ein Netzwerk aus Sprüngen auf einem von der Sonne verbrannten Lehmboden. Es war nur ein kleiner Sieg gewesen, aber Grace hatte ihn trotzdem genossen. Das war in den Tagen der Pflegefamilien gewesen, den fünf Jahren, die sie damals als ein nicht enden wollendes Spiel von ›Reich die Waise weiter‹ bezeichnet hatte, und sie hatte jeden kleinen Triumph gebraucht, den sie erringen konnte.
Am Ende war Ms. Adaras Artikel natürlich völlig falsch gewesen. Es waren nicht die kummervollen Geister ihrer Eltern gewesen, die Grace angetrieben hatten. Nein, wenn Grace von etwas verfolgt wurde, dann von etwas sehr Lebendigem.
Sie hatte an der Universität von Colorado den Einführungskurs in Medizin belegt und mit wilder Verbissenheit studiert, dann wurde sie an der angesehenen medizinischen Fakultät der Duke University aufgenommen. Also packte sie ihre ganzen Besitztümer in ihren grundierfarbengrauen Mustang und tauschte die helle Trockenheit Colorados gegen das feuchte und schattige Grün North Carolinas ein. Es war ihr erster Aufenthalt in den Südstaaten, und als Kind des fast trockenen Westens war sie auf die allgegenwärtige Üppigkeit nicht vorbereitet gewesen. Hier war alles lebendig. Nicht nur der Rhododendron und das Hartriegelholz und die mit Moos besprenkelten Pinien, sondern auch die Steine, der Erdboden und die Flüsse – sie alle wimmelten vor Leben. Selbst ihr
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