Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
Teppichboden war an einigen Stellen so durchgelaufen, daß die darunterliegenden Linoleumplatten – die vermutlich aus gepreßtem Asbest bestanden – durchschimmerten. Graces wenige Besitztümer verliehen der Wohnung auch nicht viel Glanz. Ihr fiel auf, daß die letzte ihrer Wohnzimmerpflanzen verwelkt und braun war. Das hatte auch etwas Positives, jetzt mußte sie nicht mehr daran denken, sie zu gießen.
Sie ging in die winzige Küche, stöberte in dem rostigen Kühlschrank herum und fand eine Schachtel mit chinesischem Essen aus einem Imbiß. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf einen Futon – das einzige Möbelstück, das ihr gehörte – und aß kalten Reis, während sie auf einem Fernseher mit unscharfem Bild, der fast so alt wie sie war, die Abendnachrichten sah.
Aber sie war nicht hungrig, und die Nachrichten waren die gleiche Aneinanderreihung von Katastrophen und Gewalt wie jeden Abend, und plötzlich wollte sie nicht hiersein, in diesem düsteren kleinen Apartment, allein und schwermütig und gefangen. Sie stand auf und blickte sich um, als sähe sie das Zimmer zum ersten Mal. Es erschien unwirklich. Hier lebte sie? Sie wußte, daß es so war, und doch konnte es nicht sein. Denn wie sollte das möglich sein, wo sie sich von allem so losgelöst fühlte. Das war ihre Wohnung und doch wieder nicht. Es war ein irrationales Gefühl, aber es war so stark, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als es für die Wahrheit zu halten.
Grace gehörte nicht hierher.
Sie stellte die fettige Essensschachtel auf dem Fernseher ab und schnappte sich eine Jacke. Die Tür fiel hinter ihr zu, und erst auf der Mitte der Treppe fiel ihr ein, daß sie sie nicht abgeschlossen hatte. Beinahe wäre sie stehengeblieben, hätte sich umgedreht, um zurückzugehen. Das hier war nicht die beste Gegend. Bis zu diesem Augenblick war sie fast fanatisch darauf bedacht gewesen, die Tür zu verriegeln. Jetzt fühlte sie Übermut in sich aufsteigen, zusammen mit einem seltsamen Gefühl der Vorahnung. Irgendwie wußte sie, daß sie, wenn sie das Haus jetzt verließ, niemals zurückkehren würde, und falls das stimmte, spielte es auch keine Rolle, ob sie die Tür nun verriegelte oder nicht.
Grace zögerte nur einen Herzschlag lang, dann lief sie die Treppe hinunter. Sie schob die Hände in die Jackentaschen und ging in die Abenddämmerung hinaus.
Ein paar Häuserblocks weiter fand sie sich am Rand einer grünbraunen Grasfläche wieder, auf der ein paar Bäume wuchsen. Der Stadtpark. Sie betrat einen der Asphaltwege, die durch ihn hindurchführten. Sie ertappte sich dabei, daß sie vor sich hin summte. Es war ein halbvergessenes Lied, vermutlich aus ihrer Kindheit. Die Melodie kam ihr mühelos über die Lippen, obwohl sie ihren Titel nicht mehr wußte, und sie konnte sich auch nur an ein paar gemurmelte Textzeilen erinnern.
Zu oft trennen Abschiedsworte für immer
Ihre kleinen, fahlen Herzen …
Die Worte ergaben wenig Sinn – sie vermutete, daß die verstrichene Zeit sie in ihrer Erinnerung verändert hatte –, spendeten aber trotzdem Trost. Wie so oft beim Gehen zog Grace die Silberkette, die um ihren Hals hing, aus dem Ausschnitt. An ihrem Ende baumelte ein Anhänger, ein keilförmiges Stück Metall, in das ein rechteckiges Muster eingraviert worden war. Wie das Lied war auch die Kette ein Relikt ihrer Kindheit. Sie hatte sie getragen, als die Angestellten des Waisenhauses sie gefunden hatten, auch wenn sie zu jung gewesen war, um sich daran zu erinnern. Aber es war eine Verbindung zu ihren Eltern und dem Leben, das sie nie kennengelernt hatte, und auch wenn es eine traurige Erinnerung darstellte, war sie doch ebenso kostbar.
Grace ging weiter. Es fühlte sich gut an, sich von dem Druck zu befreien, den die Häuser der Stadt verbreiteten. Im Park war die Luft viel leichter, perlweiß statt grau, und Grace konnte etwas von der Größe der dahinterliegenden Welt erahnen. Die Berge zeichneten sich als Silhouette vorm Horizont ab, so scharf und flach und schwarz, als hätte sie ein Kind für den Werkunterricht aus Pappe ausgeschnitten. Am Himmel funkelten die ersten Sterne. Sie ließ sich weiter durch den Park treiben.
Es waren die Augen des Mädchens, die sie verharren ließen.
Grace hätte es beinahe nicht gesehen, denn das altmodische Kleid, das das Mädchen trug, hatte denselben Farbton wie die Dämmerung, und sein Haar war ein Schatten, der über dem bleichen mondähnlichen Oval seines Gesichts schwebte. Aber
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