Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
mit der freien Hand entgegen, fest davon überzeugt, daß ihm ihr Zittern nicht verborgen blieb. Doch der Detective schien nicht zu bemerken, daß etwas nicht in Ordnung war. Grace biß die Zähne zusammen, voller Angst, jeden Augenblick aufzuschreien.
»So, Dr. Beckett«, sagte Janson, und Interesse funkelte in seinen kleinen Augen auf, »dann erzählen Sie mir doch mal, wo Sie diesen außergewöhnlichen Halsschmuck herhaben …«
18
Bei jedem Fortschritt, jeder größeren oder auch kleineren Veränderung, kommt der Augenblick, der Bruchteil einer Sekunde, in dem alles, was dahinterliegt, und alles, was davorliegt, eine perfekte Symmetrie aufweist, wie eine im Gleichgewicht befindliche Wippe. Weicht man von dem Schwerpunkt zurück, verändert sich das Gleichgewicht zugunsten der Seite, auf der man sich zuvor befunden hat; man kehrt zum Vertrauten und Gewöhnlichen zurück. Bewegt man sich aber über den Schwerpunkt hinaus, kippt die Wippe nach vorn, und derjenige, der darauf balanciert, stolpert die Schräge hinunter und wird – ohne daß er es kontrollieren kann – mit ihm unbekannten Möglichkeiten konfrontiert. Und sobald das zerbrechliche Gleichgewicht des Fortschritts verändert wurde, egal in welche Richtung, kann es nie wieder in derselben Form hergestellt werden. Bewegt man sich rückwärts, wird die Chance, einen Schritt nach vorn machen zu können, nie zurückkehren. Bewegt man sich vorwärts, wird man jede Hoffnung verlieren, jemals zu dem Gewesenen zurückkehren zu können.
Detective Jansons Frage verklang, der Nachhall seiner Worte troff vor falscher Gleichgültigkeit, in seinen sonst so gelangweilt blickenden Augen flackerte nackte Gier.
In diesem Augenblick stand Grace am Scheideweg. Sie hielt den heißen Kaffee umklammert, und eine Vision zog an ihrem inneren Auge vorbei, die jenen glich, die Leute während einer Nahtod-Erfahrung erlebten. Sie war im Krankenhaus, wieder in das fast atemlose Chaos verstrickt, das ihr – glücklicherweise – keine Zeit zum Nachdenken ließ. Morty Underwood lachte, ein Strom von Verletzten ergoß sich durch die Automatiktür. Grace beugte sich über jeden Patienten, beruhigte, linderte Schmerzen und heilte mit geschickten Fingern Verletzungen. Die Wunden anderer zu versorgen ließ ihr keine Zeit, ihre eigenen zu bemerken.
Noch war eine Rückkehr möglich – die Rückkehr ins Krankenhaus, die Rückkehr zu ihrem sorgfältig konstruierten Leben. Sie brauchte bloß Janson die Halskette zu geben. Er war an der Kette interessiert, nicht an ihr. Überließ sie sie ihm, würde er sie mit Sicherheit gehen lassen, sie mit ziemlicher Sicherheit vergessen. Und das Direktorium des Krankenhauses wollte den Zwischenfall mit dem Mann und seinem eisernen Herzen verschweigen. Sie würde nie wieder an ihn oder an den kalten Klumpen Metall in seiner Brust denken müssen. Sie sah sich wieder durch die Korridore des Denver Memorial streifen: voller Selbstbewußtsein, eine Königin in ihrem eigenen Reich. Sogar Leon Arlington war da. Er lehnte an einer Theke und blickte sie mit seinen schläfrigen braunen Augen an …
Leon?
Aber Leon Arlington konnte nicht dasein. Der arme Leon, der nun selbst in einem der Stahlschubfächer der Leichenhalle des Krankenhauses lag. Der gute Leon, der so lange mit Toten gearbeitet hatte, daß er so wie sie und schließlich einer von ihnen geworden war. Doch jetzt stand er da, und er musterte sie mit seinem sanften Blick.
Das Tempo der Vision stockte, und jeder Augenblick, jede Bewegung verlängerte sich mit quälender Langsamkeit. Alles um sie herum erschien flach und verzerrt, wie ein Breitwandfilm, den man auf einen Fernsehbildschirm gequetscht hatte. Leon öffnete den Mund, als wollte er ihr etwas sagen, aber lediglich ein Grollen ertönte. Ihre Gedanken rasten. Leon Arlington konnte nicht dort sein.
Genau das versuchte er ihr zu sagen. Das leise Grollen beschleunigte sich zu wäßrigen, verständlichen Worten.
Das hier ist nicht länger die Realität, Grace …
Das Bild verschwand, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Detective Janson stand noch immer vor ihr. Grace geriet in Panik. Wie lange hatte sie wie erstarrt dagestanden, verloren in dem Dunstschleier der Möglichkeiten? Hatte ihr Schweigen Janson mißtrauisch gemacht? Aber sein Blick ruhte noch immer auf dem Anhänger um ihren Hals. Es waren nicht mehr als ein paar Sekunden vergangen. Grace nahm einen tiefen Atemzug und sammelte ihre Willensstärke. Dann überschritt sie
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