Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Gesicht und verstand. »Ja«, sagte er leise. »Und keine Liebe, keine Freude und keine Freundlichkeit. Versteht Ihr denn nicht, Kyrene? Ihr habt Euer Herz weggegeben.« Die Worte ließen ihn erzittern. »Ihr habt Euer Herz weggegeben.«
Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als würde sie einen kurzen Augenblick lang die Wahrheit erkennen, die in seinen Worten lag. Dann verhärtete sich ihr Gesicht zu einer Maske des Zorns.
»Nein.« Sie hob den Dolch. »Das ist nicht wahr!«
Sie warf sich auf ihn, der Dolch zielte genau auf seine Brust. Im letzten Moment – die Klinge war noch einen Zentimeter von seinem Herzen entfernt – gelang es ihm, ihr Handgelenk zu ergreifen. Sie war stark, sogar schrecklich stark, genau wie sie gesagt hatte, aber er war fast doppelt so groß wie sie, und die Angst verlieh ihm fast übernatürliche Kräfte. Mit einem Aufschrei stieß er sie beiseite. Sie prallte gegen die Wand, der Dolch entglitt ihrer Hand, und sie sackte zu Boden.
Er blickte sich verzweifelt um. Da – eine Tür in der gegenüberliegenden Wand. Er warf sich ihr entgegen, drückte sie auf. Hinter ihm ertönte ein Schrei, der ihm das Blut in den Adern erstarren ließ.
»Das wird Euch noch leid tun, Freisasse Travis«, rief sie. »Wenn Ihr nicht mein sein wollt, dann nehme ich mir etwas, das Ihr liebt! Ich werde es nehmen, und ich werde es vernichten! Dann hat Euer Herz etwas, das es ertragen muß!«
In seinem ganzen Leben war er noch nie solch nacktem Haß begegnet. Kyrene war einst eine Frau gewesen, aber das Ding da hinter ihm war kein Mensch mehr und würde es auch nie wieder sein.
Travis schlug die Tür hinter sich zu. Es gab ein Querholz, und er schob es in die dafür vorgesehenen Halterungen. Dann rannte er den Korridor entlang, fort von dem Licht fort von dem Wahnsinn des Bösen.
Er bog um eine Ecke; voraus war eine weitere Tür. Er stieß sie auf, eiskalte Luft traf sein Gesicht. Vor ihm erstreckte sich der Untere Burghof. Nicht weit entfernt ragte ein dunkler Umriß empor: der Turm der Runensprecher. Ja, wenn er irgendwo Hilfe finden würde, dann dort. Er sah sich nach beiden Seiten um, entdeckte niemanden, und sprintete über den Hof.
Er erreichte den Turmeingang. Der Puls dröhnte ihm in den Ohren und drohte seine Trommelfelle zerplatzen zu lassen, aber er hatte es geschafft. Er riß die Tür auf und keuchte die Stufen hinauf, die an der Innenseite des Turms spiralenförmig nach oben führten.
»Rin!« rief er. »Jemis! Wo seid ihr?«
Er platzte in das Hauptgemach des Turms. Rin schaute überrascht auf. Der muskulöse junge Runensprecher kniete neben der Kohlenpfanne und machte sich gerade an ihrem Inhalt zu schaffen.
Er stand auf, klopfte sich Asche von den Händen. »Travis, was ist los?« fragte er besorgt.
Travis schüttelte den Kopf, rang nach Luft. Wie sollte er es erklären? »Sie haben mich gefunden, Rin. Sie sind direkt hinter mir.«
Der junge Runensprecher runzelte die Stirn. »Von wem sprichst du? Ist jemand im Schloß? Ein Eindringling?« Seine Miene verfinsterte sich. »Ein Feind des Königs?«
Travis nickte, dann schüttelte er den Kopf. Es handelte sich nicht um das, was Rin glaubte. Keine Räuber oder abtrünnige Ritter. Es fehlte die Zeit für Erklärungen. »Ich muß in den Großen Saal«, stieß er hervor. »Ich muß mit Lord Falken sprechen. Er kann es erklären.«
Rin seufzte, dann nickte er. »Ich kann nicht behaupten, daß ich dich verstehe, Travis. Aber wenn du sagst, es sei wichtig, dann ist es das auch.«
Travis blickte Rin dankbar an. Er konnte sein Glück gar nicht fassen, in einer solchen Nacht einen solchen Freund zu finden. Vielleicht bestand ja doch noch Hoffnung.
»Aber du bist erschöpft, Travis.« Rins breites Gesicht verriet Besorgnis. »Du wirst weder Falken noch sonst jemandem von Nutzen sein, wenn du auf dem Weg zum Großen Saal zusammenbrichst. Komm, ich gebe dir einen Schluck Wein.«
Dringlichkeit wühlte Travis’ Herz auf. Er wollte sagen, daß Eile dringend geboten war, aber seine Kehle war zu trocken. Rin hatte recht, er mußte was trinken, einen Augenblick lang ausruhen, dann konnte er weiterlaufen. Er ließ sich neben der Kohlenpfanne auf einen Stuhl fallen.
»Wo steckt denn Jemis?« krächzte er.
»Der ist schon im Großen Saal.« Rin ging zu einer Anrichte und füllte zwei Pokale mit Wein.
Travis hielt die Hände über die Kohlenpfanne. Trotz der körperlichen Anstrengungen war ihm kalt. Er rieb die Hände aneinander. Dann sah
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