Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
bezweifelte, diesen Irrgarten jemals durchqueren zu können, ohne sich zu verlaufen. Was das anging, hätte ihr wissenschaftlicher Verstand jemals weitere Beweise dafür benötigt, der Zwischenfall im Großen Saal bot sich hervorragend als weitere Fallstudie für ihre Forschungsarbeit an. Wie hatte sie den Begleiter des Barden nur für einen Diener halten können?
Sie strich den Stoff ihres Gewandes glatt. Du hattest dir beinahe schon eingeredet, daß das hier die Wirklichkeit ist, Grace. Es ist leichter, eine Adlige zu sein, nicht wahr? Man muß nicht unbedingt mit anderen Leuten sprechen. Man kann sie einfach herumkommandieren.
Grace verzog das Gesicht, als sie sich an den beleidigten Gesichtsausdruck des Mannes erinnerte. Wie viele andere hatte sie schon mit ihren Fehleinschätzungen verletzt, ihrer Unfähigkeit, die Gefühle und Gedanken anderer zu verstehen? Wie viele mehr würden ihr noch zum Opfer fallen? Der Mann im Großen Saal, der Mann mit der Brille, war nur eines von vielen Opfern, die von den herumfliegenden Trümmern ihres gebrochenen Herzens erschlagen wurden.
Sie legte die Hand auf die Brust und erwartete fast, dieselbe bittere Kälte zu fühlen, die sie im Brustkasten des Toten im Denver Memorial Hospital gefühlt hatte. Aber ihr Herz flatterte warm und schwach unter dem Stoff ihres Gewandes. Sie holte schaudernd Luft. Vielleicht wäre es besser, wenn sie ein Herz aus Eisen hätte. Vielleicht würde ihr dann der ständige Versuch erspart bleiben, zu fühlen und dabei zu scheitern. Es war alles so absurd; beinahe hätte sie darüber gelacht. Obwohl sie seine vier Kammern mit einem Skalpell präzise sezieren konnte, blieben ihr die Geheimnisse des menschlichen Herzens dennoch verschlossen. Wie der Irrgarten des Schlosses führte es sie unweigerlich an Orte, von denen es für sie kein Entrinnen gab, zu Dingen, die sie nicht sehen wollte.
Ihre Gedanken wandten sich Kyrene zu. Sie war der Gräfin in den letzten Tagen bewußt aus dem Weg gegangen. Doch jetzt verspürte sie ein seltsames Bedürfnis, Kyrene wiederzusehen, mit ihr zu sprechen und ihr Fragen über Ivalaine und die Hexen zu stellen. Kyrene würde ihr alles verraten, da war sie sich sicher. Die Gräfin von Selesia würde ihr ihre Überlegenheit nur zu gern beweisen. Aber das machte Grace nichts aus, nicht mehr.
Ein paar Kräuter, die richtigen Worte …
Ein Schauder durchfuhr sie, und das lag nicht nur an der Kälte im Schloß. Sie stellte ihn sich vor: schlank, dunkel, elegant. Jawohl, vielleicht wird Logren von Eredane das nächste Mal mit mir im Garten Spazierengehen.
Das war lächerlich. Auf der Erde war Grace Intimität aus dem Weg gegangen. Sie konnte niemanden mehr an sich heranlassen. Denn wer ihr zu nahe kam, konnte alles über sie erfahren. Alles. Das durfte sie nicht zulassen. Nicht auf dieser Welt – auf keiner Welt.
Grace blieb stehen und schüttelte den Kopf. Sie kannte diesen Gang. Er führte zu den Schlafgemächern vieler der Adligen von Calavere. Wenn sie um die nächste Ecke bog, würde sie vor Kyrenes Tür stehen. Sie stand stocksteif da. Dann hob sie den Saum ihres Gewandes, und ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, wie wenig adlig sie dabei aussah, rannte sie den Korridor entlang zurück in die andere Richtung.
Grace bog um die Ecke – und stieß mit etwas Großem, Grünem zusammen, das ein lautes Aufstöhnen von sich gab. Sie sah im Augenwinkel etwas Silbernes aufblitzen, dann hörte sie das klirrende Geräusch von Metall auf Stein. Grace stolperte zurück und hielt sich an der Wand fest. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klar sehen zu können, und da erkannte sie, was – nein, wen – sie da über den Haufen gerannt hatte.
Das Herz wurde ihr schwer. Es war der dunkelblonde Mann mit der Nickelbrille. Er hatte die Arme über seinem schlecht sitzenden Wams gekreuzt und hielt sich den Magen. Sie hatte offensichtlich seinen Solarplexus getroffen und ihm den Atem geraubt. Schade, daß du ihm nicht auch noch ein paar Rippen gebrochen hast, Grace. Dann wüßtest du jetzt wenigstens, was du sagen sollst.
Dieser Gedanke ließ sie das Gesicht verziehen. Dann räusperte sie sich und zwang sich zum Sprechen. »Alles in Ordnung mit Euch?«
Er hob den Kopf. »Ach. Ihr seid das.«
Sie trat zögernd einen Schritt nach vorn und hielt ihm die Hand hin. »Kann ich Euch helfen?«
Er richtete sich mit einer Grimasse zu seiner vollen Größe auf – oder vielmehr der Größe, mit der sie ihn zuvor im Großen Saal
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