Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Aber jedesmal, wenn Grace dem Ritter ihre Hände aufgelegt hatte, hatte sie mit absoluter Sicherheit gewußt, daß das nicht geschehen würde, daß er leben und nach einiger Zeit gesunden würde.
Sie hatte entschieden, diesem Instinkt zu glauben. Kyrene hatte ihre Fehler gehabt, aber die Macht, die sie Grace enthüllt hatte – die Weltenkraft –, kannte so etwas nicht. Sie repräsentierte das Leben. Grace würde ihr vertrauen.
Sie hatte Melia einen Kräutertrank mitsamt genauen Anweisungen gegeben und war dann gegangen. Ihr letzter Blick hatte ihr die Lady gezeigt, wie sie am Bett des schlafenden Ritters saß, vom Licht einer einzelnen Kerze beleuchtet, während ihr die Haare nach vorn ins Gesicht fielen, weil sie den Kopf gesenkt hielt. Melias kleine Hand hatte auf Beltans so viel größerer gelegen, und ein leiser, rhythmischer Laut war ertönt. Es war ein Gebet gewesen, und Grace hatte die Tür hinter sich geschlossen.
»Schon einmal hat dieser Rat meinen Worten gelauscht und sie ignoriert«, sagte Falken nüchtern. »Ich bitte darum, daß er mir noch einmal zuhört. Die vergangene Nacht war die längste Nacht des Jahres, und wir haben sie überstanden und die Morgendämmerung erblickt. Jetzt kehrt die Sonne zurück. Von diesem Tag an werden die Tage länger, und das ist ein Grund zum Feiern. Aber der Winter ist noch nicht vorbei.«
Falkens Stimme hob sich, bis sie das Gemach ausfüllte. Die Zuschauer auf ihren Bänken lehnten sich vorwärts. Die Herrscher ließen ihn keinen Moment lang aus den Augen, als er um den Tisch schritt.
»Das Runentor ist versiegelt worden. Der Fahle König wird nicht aus seinem Reich geritten kommen. Das ist Anlaß zum Staunen. Aber wagt nicht zu vergessen, was letzte Nacht geschehen ist. Der Fahle König ist besiegt, aber er ist nicht tot. Er hält noch immer Gelthisar, den Stein des Eises, in seinem Besitz. Seine Diener streifen noch immer ungehindert durch die Domänen. Und wo einst drei Siegel das Tor nach Imbrifale verschlossen, gibt es jetzt nur noch eines.« Der Barde ballte die schwarz behandschuhte Hand zur Faust. »Nein, dieser Winter ist noch lange nicht vorbei.«
Falken betrachtete den Rat, dann verbeugte er sich. »Das ist alles, was ich zu sagen habe.« Er ging zu seinem Platz zurück.
Boreas sah nacheinander jedem Herrscher in die Augen. »Ihr alle kennt die Angelegenheit, um die es geht. Dieser Rat wird jetzt seine endgültige Entscheidung treffen.«
Er leerte den Lederbeutel mit den weißen und schwarzen Steinen in seiner Hand. Jeder Herrscher erhielt je einen Stein von jeder Farbe. Sie trafen ihre Wahl unter dem Tisch, dann streckten sie die geschlossenen Hände aus. Grace verstärkte den Griff um Aryns Hand.
»Krieg«, sagte Boreas und öffnete die Hand. Der Stein auf seiner Handfläche war weiß.
Kylar nickte. »Krieg«, sagte der junge König mit fester Stimme und enthüllte seinen weißen Stein.
Persard, Sorrin und Lysandir öffneten die Hände: überall nur weiße Steine. Graces Herz machte einen Freudensprung. Sie hatten endlich zugehört, endlich glaubten sie. Die Abstimmung war gewonnen. Dann hielt sie den Atem an, denn es mußte noch ein Stein geworfen werden.
Alle Blicke wandten sich Ivalaine zu. Die Königin von Toloria sah mit unbewegtem Gesicht nach vom, dann öffnete sie die Hand. Dort lag ein weißer Stein.
»Krieg.«
Die Zuschauer atmeten erleichtert auf. Boreas erhob sich zufrieden.
»Der Rat hat eine Entscheidung getroffen«, sagte er mit einer Stimme, die die Turmwände erzittern ließ. »Die Domänen werden die nötigen Vorbereitungen treffen, um gegen den Fahlen König und seine Streitkräfte in den Krieg zu ziehen. Wenn wir das nächste Mal zusammentreffen, wird es sein, um die Aufstellung unserer Armeen festzulegen. Bis dahin vertagt sich dieser Rat.«
Herrscher und Zuschauer erhoben sich, aber Grace blieb sitzen. Sie konnte den Blick nicht von der zerbrochenen Scheibe im Mittelpunkt des Tisches wenden: die zerbrochene Rune des Friedens. Hätte sie ein Gebet gekannt, hätte sie wie Melia eines gesprochen.
Die Adligen gingen auf dem Weg nach draußen an Grace und Aryn vorbei. Falken grinste sie an, und unwillkürlich mußte sie zurückgrinsen. Nicht weit hinter Falken kamen Ivalaine und Tressa.
Ivalaine nickte Grace und Aryn knapp zu, dann wandte sie den Kopf wieder nach vorn. Die eisfarbenen Augen der Königin von Toloria leuchteten. Sie hatte den Krieg gewählt, aber die Hexen planten noch immer etwas. Aber was? Grace war
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