Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Augen, die wie uralte silberne Sterne aussahen.
Ja, sie verstand.
Sie kniete neben der Gestalt nieder. Es war Beltan. Er war schwer verletzt, das erkannte sie sofort. Der Riß in seiner Seite war sehr tief. Selbst auf der Erde wäre seine Prognose unsicher gewesen. Hier, auf dieser Welt, hätte er tot sein müssen. Aber die Blutung hatte aufgehört, und seine Atmung war tief und beständig. Grace berührte ihn und fühlte es mit absoluter Sicherheit: Es würde seine Zeit brauchen, aber der Ritter würde wieder genesen.
»Das Runentor ist wieder verschlossen«, sagte eine Stimme. Sie war nicht laut, erfaßte aber den ganzen Saal. »Der Fahle König ist wieder gefangen.«
Grace stand auf. Mitten in der unfaßbaren Tür stand ein Mann, der mit einem schlechtsitzenden Wams bekleidet war; sein Haar und der Bart waren zerzaust, der Blick hinter der Nickelbrille ernst. Er betrat den Saal, dann hob er einen Gegenstand in die Höhe, einen graugrünen Stein. Sinfathisar. Er flüsterte etwas – es hörte sich an wie die Worte Seid geheilt – , dann strahlte der Stein hell auf. Alle hoben die Hände, um die Augen zu schützen. Das Licht verblaßte wieder, und die Anwesenden senkten die Hände und blickten sich in erneutem Staunen um.
Die am Boden kauernden Feydrim waren verschwunden. An ihrer Stelle standen seltsame Leute mit gespaltenen Hufen und Geweihen auf der Stirn, schwanhälsige Frauen mit Libellenflügeln und kleine grüne Männer mit Bärten aus Blättern. Das Kleine Volk. Weitere seltsame Wesen traten aus den Schatten, angeführt von einer kleinen Gestalt in Gelb und Grün.
Die Mitglieder des Kleinen Volkes traten vor und hoben die verkrümmten Leichen der toten Feydrim auf. Auf ihren seltsamen Gesichtern vermengte sich Trauer mit Freude. Die Lichtelfen schwebten zu Boden, um sich zu ihnen zu gesellen.
Grace hielt den Atem an, als ein Paar haselnußbraune Augen ihren Blick erwiderte. Trifkin Moosbere nickte ihr zu, in seinen uralten Augen lag Verstehen. Ein glänzender Laut wie Glockenklang ertönte, und das Kleine Volk und die Feen waren verschwunden. Die Türen des Großen Saals schlossen sich. Grace wußte, daß, wenn sie sich wieder öffneten, ein Schloßkorridor dahinterliegen würde und kein verschneites Tal.
Der zerzauste Mann in dem zu großen Wams senkte den Stein und stolperte vorwärts.
»Travis!« rief Grace freudig aus.
Er blickte auf, sah sie und grinste. Seine Lippen formten ein Wort. Grace. Sie sprang vom Podium und rannte los. Er rannte auch, und die Menge teilte sich, um ihnen Platz zu machen. Sie trafen sich in der Mitte von Calaveres Großem Saal und fielen einander stürmisch in die Arme.
Die lange Winternacht war vorüber.
46
Am nächsten Morgen, dem Wintersonnenwendtag, trat der Rat der Könige zusammen, um über das Schicksal der Domänen zu entscheiden.
Im Ratsgemach nahm Grace ihren Platz an Aryns Seite ein. Sie drückte der jungen Baronesse die Hand, und die junge Frau erwiderte den Druck und lächelte. Aber dieser Ausdruck war so zerbrechlich, wie er lieblich war, wie ein feines Netzwerk aus Frost auf einem herabgefallenen Blatt. Die Baronesse trug nicht wie gewöhnlich Himmelblau, sondern ein Gewand von der Farbe eines Winterabends.
Grace musterte die Freundin. Etwas stimmte nicht, etwas war gestern abend mit Aryn geschehen, über das die junge Frau nicht gesprochen hatte; die Ärztin in ihr wußte das instinktiv. Nur daß es sich hier um keine sichtbare Verletzung handelte. Was konnte es sein? Graces Diagnosefähigkeiten waren überfragt. Aber was auch immer es war, es konnte warten, zumindest eine kleine Weile. Heute lächelte Aryn, und der neue Tag über Calavere hatte kalt, aber hell begonnen.
Es ist vorbei, Grace. Wir haben gewonnen. Genießen wir es, zumindest für heute.
Adlige blinzelten und gähnten, als sie das Ratsgemach betraten, so als wären sie gerade aus einem Traum erwacht. In gewisser Hinsicht schien das auch zuzutreffen. Der Große Saal war am Morgen ein Durcheinander aus umgestürzten Tischen und zerbrochenem Geschirr gewesen, das Vermächtnis der Schlacht am Vorabend. Allerdings hatten keine Türen an Orte geführt, die sich nicht im Schloß befanden, es hatte nicht die geringste Spur von den getöteten Feydrim oder dem Kleinen Volk gegeben. Selbst Trifkin Moosbere und seine Schauspieler waren nirgendwo zu finden gewesen. Grace und Travis hatten sich zu früher Stunde zu ihrem Gemach begeben, um sich bei ihnen zu bedanken, aber sie hatten nur einen
Weitere Kostenlose Bücher