Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Fluß Dunkelwein, überspannte. Er schaute dem Fluß des Wassers zu, das wie seit Jahrhunderten unter der Brücke vorbeiströmte, und dachte an all die Leute, die sie überquert hatten, wo sie wohl hingegangen und was ihre Geschichten gewesen waren. Seine Füße waren nur ein weiteres Paar in der endlosen Prozession, die diesen Weg benutzt hatten und ihn benutzen würden. Irgendwie war das ein tröstlicher Gedanke.
Travis verbrachte einige Zeit damit, an seinen Runen zu arbeiten, aber eigentlich bloß Melia und Falken zuliebe. Dann saß er am Kamin in ihrem Gemach und malte Symbole auf seine Wachstafel, während Melias Kätzchen fauchte und seine Knöchel bearbeitete. Aber oftmals ertappte er sich dabei, wie er in die Flammen blickte, die Tafel vergessen auf seinem Schoß, und sich gedankenverloren die rechte Hand rieb.
Er war sich noch immer nicht hundertprozentig sicher, was Jack mit ihm gemacht hatte – vermutlich würde er es nie erfahren –, aber langsam kam er zu dem Schluß, daß er zumindest einen Teil der Wahrheit erahnte. Jack war tot, daran kam er nicht vorbei, aber die Stimme, die in Travis’ Bewußtsein gesprochen hatte, war Jacks Stimme gewesen. Vielleicht war es in gewisser Weise sogar Jack. Oder zumindest ein Teil von ihm. Vielleicht war es das, was Jack ihm in diesem schrecklichen Augenblick unter den Räumen des Magician’s Attic gegeben hatte.
»Ich vermisse dich, Jack«, murmelte er dann und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Tafel mit den Runen.
Einen großen Teil seiner Zeit verbrachte Travis damit, Beltan zu besuchen. Seit sie ihn in der Nacht der Wintersonnenwende in Melias Schlafgemach gebracht hatten, war der Ritter dort geblieben, um sich von seinen Verletzungen zu erholen, und jeden Tag wurde in dem kleinen Raum eine Schlacht ausgetragen. Jeden Morgen drohte Beltan aufzustehen, und jeden Morgen stieß Melia Drohungen aus, um ihn im Bett zu halten. Sie sagte nie konkret, was sie tun würde, um das zu erreichen, aber für gewöhnlich machte sie ein paar webende Bewegungen mit den Fingern, und Beltan riß die Augen auf.
»Das würdet Ihr nicht wagen!« sagte er dann.
Worauf die Lady dann mit hartem Tonfall erwiderte: »Laß es drauf ankommen.«
Bis jetzt war Melia aus jedem Kampf als Siegerin hervorgegangen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bevor Beltan die Oberhand gewinnen würde. In den ersten Tagen hatte die Haut des Ritters einen grauen Farbton aufgewiesen, und er hatte viel geschlafen und sich wenig bewegt. Doch Grace kam täglich vorbei, um die von den Feydrim geschlagenen Wunden zu untersuchen, und sie heilten langsam. Im Verlauf der Zeit saß der Ritter immer öfter aufrecht, und seine Augen blickten hell und klar. Obwohl trotz seiner Beteuerungen selbst eine so simple Handlung wie die Benutzung des Nachttopfes ihn so sehr erschöpfte, daß er an allen Gliedern zitterte und sich zurück auf das Federbett sinken ließ.
Es ist schwer für einen Ritter, schwach zu sein. Das hatte Travis eines Nachmittags begriffen, als er bei Beltan saß. Aber vielleicht gewann man ja an Kraft, wenn man seine Grenzen kennenlernte.
Sobald Beltan öfter wach war als er schlief, verbrachte Travis jeden Tag mindestens ein oder zwei Stunden bei dem Ritter. Sie unterhielten sich dann über ihre Reisen oder die Erde – ein Thema, an dem Beltan ein offensichtliches Interesse entwickelt hatte. Der Ritter stellte Travis unzählige Fragen – wie war die Geographie, wo lebten die Menschen, wie verteidigungsfähig waren diese ›Wolkenkratzer‹ –, und Travis gab sich alle Mühe, sie zu beantworten und so exotische Dinge wie Autos und Fernsehen und Mikrowellen-Popkorn zu erklären. Er war sich nicht sicher, was Beltan von all dem hielt, aber manchmal nahm der Ritter einen nachdenklichen Ausdruck an, als versuchte er, sich das alles bildlich vorzustellen.
Sie unterhielten sich nicht immer. Manchmal spielten sie mit Spielsteinen aus polierten Knochen ein Spiel, das Beltan ihm beibrachte und das er zur Bestürzung des Ritters meistens gewann. Oder sie schwiegen, damit zufrieden, einander Gesellschaft zu leisten und sich den Himmel draußen vor dem Fenster anzusehen. Wenn Beltan dann die Augen zufielen, zog sich Travis lautlos zurück und überließ den Ritter seiner Ruhe.
Von all seinen Aktivitäten beschäftigten Travis die Spaziergänge am meisten. Einige nickten ihm zu, wenn sie ihm in den Korridoren und Hallen Calaveres begegneten. Vielleicht hatten sie ihn gesehen, als er im
Weitere Kostenlose Bücher