Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
und wandte sich den anderen zu.
»Da gibt es etwas, das wir euch erzählen müssen.«
27
Am nächsten Morgen stand Travis im farblosen Licht vor Morgengrauen auf, schlüpfte in sein Wams, wickelte den Umhang um seinen schlotternden Körper und schlurfte zum Turm der Runensprecher.
Jemis hatte noch schlechtere Laune als gewöhnlich, und die Liste der Runen, die er Travis gab, war endlos. Am späten Nachmittag war Travis nicht mal zur Hälfte fertig, und er hatte es nur Rins Fürsprache zu verdanken, daß er gehen durfte, ohne seine Arbeit beendet zu haben.
Er eilte zurück ins Schloß und holte sich im Großen Saal etwas zu essen – Brot, gelben Käse in einer harten Rinde, Rosinen mit Kernen und eine Scheibe zähes, wenn auch eßbares Wildbret. Es war kein gebackener Camembert mit Toast, aber so langsam gewöhnte er sich an das Essen auf dieser Welt. So wie er sich daran gewöhnte, schlanker zu werden. Das grüne Wams saß mehr als je zuvor wie ein Sack; zur Zeit hatte er nicht mehr Fett am Körper wie der Hirsch, von dem er gerade ein Stück verspeiste.
Als er das Wildbret aufgegessen hatte, war die Dämmerung hereingebrochen. Doch im tiefen Winter kam die Nacht immer vorzeitig. Der Kreis des Schwarzen Dolches würde erst in Stunden zusammentreffen. Nicht, daß er viel zu berichten hatte. Keiner der im Großen Saal Anwesenden trug einen sichtbaren Verband, und die Zeit reichte nicht aus, um im Schloß mit einer ernsthaften Suche zu beginnen. Travis beschloß, in das Gemach zurückzukehren, das er sich mit Falken und Melia teilte, und die verbleibende Zeit mit dem Versuch zu verbringen, vor dem Feuer warm zu werden.
Er war fast da, als er aus dem Augenwinkel eine graubraune Bewegung sah. Er drehte sich rechtzeitig um, um eine verkrümmte, in graue Lumpen gekleidete Gestalt zu erblicken, die in einem Torbogen verschwand.
»Hey!«
Er zögerte, dann stöhnte er auf. Er setzte sich in Bewegung, rannte den Korridor entlang und polterte durch den offenen Torbogen. Auf der anderen Seite befand sich ein Raum mit drei Türen. Sie alle waren verschlossen. Er näherte sich der Tür, die ihm am nächsten war, dann wechselte er die Richtung und ging zu einer anderen. Da. Er zupfte ein Stück verschlissenen Stoff von der Türangel. Sie war hier entlang gegangen. Er riß die Tür auf und stürmte in den dahinterliegenden Korridor.
In einem abzweigenden Gang blitzte es Grau auf.
»Warte!« rief er.
Warum tat er das? Er hatte nicht einmal das schmutzige kleine Bündel dabei, das sie fallengelassen hatte – das lag in seinem Raum unter dem Bett. Aber wenn er sie einholte, konnte er sie bitten, auf ihn zu warten, und es dann für sie holen. Er wußte nicht, warum er sich überhaupt solche Mühe machte. Mal davon abgesehen, daß sie ihn sich so erbärmlich hatte fühlen lassen, als er sie beim letzten Mal über den Haufen gerannt hatte.
»Bitte, warte eine Sekunde!«
Entweder hörte sie ihn nicht oder sie wollte ihn nicht hören. Sie verschwand um eine Ecke. Er lief den Seitengang entlang, bog um dieselbe Ecke und rannte mit voller Geschwindigkeit …
… mitten in einen grauhaarigen Mann hinein, der in Schwarz und Kastanienbraun gekleidet war.
»Autsch«, stieß Travis hervor und stolperte zurück.
Der Mann streckte eine Hand nach ihm aus. »Braucht Ihr Hilfe, Meister Travis?«
Wie immer sah Lord Alerain in seinem zurückhaltenden Aufzug sauber und adrett aus. Das ergrauende Haar und der Bart waren kurzgeschnitten.
Travis rang nach Luft. »Ich suche …« Wonach? Er konnte schlecht sagen, daß er eine verrückte alte Vettel suchte, die etwas fallengelassen hatte, das aller Voraussicht nach nichts anderes als Müll war. »Ich suche Lord Beltan. Habt Ihr ihn gesehen?«
»Das habe ich in der Tat, vor wenigen Minuten. Er war im Westsaal. Wenn Ihr diesen Korridor bis zum Ende nehmt und die Treppe hinuntergeht, werdet Ihr ihn finden.« Der Seneschall setzte sich in Bewegung, dann verharrte er. »Ihr seid sein Freund, nicht wahr, Meister Travis?«
Die Frage überraschte Travis. »Ihr meint Beltan? Ja. Zumindest hoffe ich das.«
Alerain nickte. »Das freut mich. Er braucht Freunde wie Euch, die ihn daran erinnern, daß er ein guter Mann ist.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
Alerain begab sich zu einem Fenster. Die Welt draußen schimmerte silbrig in der Dämmerung.
»Ich liebe diese Aussicht. Es ist mir die liebste auf ganz Calavere. Von hier aus blickt man direkt ins Herz Calavans. Alles, was man sieht, liegt
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