Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
»Das gefällt mir alles nicht, Lirith. Es gibt hier keinerlei Anzeichen für die Flammenpest, trotzdem stimmt hier etwas nicht. Laßt uns Aryn wecken und die anderen holen. Wir müssen Sir Kalleth finden und aufbrechen.«
Die beiden Frauen gingen nach oben. Als sie die Tür ihres Gemachs erreichten, bemerkte Grace, daß die gegenüberliegende Tür einen Spaltbreit offenstand. Lord Eddocs Gemach. Daynen mußte es betreten haben, um das Fenster zu öffnen.
Eine Sekunde später traf Grace der würgende Gestank von Verfall. Er quoll beinahe greifbar aus der offenen Tür. Fliegen summten durch die Luft. Unwillkürlich ging sie zu der Tür zu Eddocs Gemach. Daynen stand mit gerümpfter Nase neben dem offenen Fenster und wedelte sich mit der Hand Luft zu. Grace sah an ihm vorbei zum Bett.
Die Verwesung war weit fortgeschritten. Der Tod war vor drei Tagen eingetreten, vielleicht auch vier. Es war schwer zu sagen, weil Grace selbst von der Tür aus feststellen konnte, daß sich Lord Eddoc im Zwischenstadium der Flammenpest befunden hatte. Die Blasen waren deutlich zu sehen, genau wie die ersten schwarzen Flecke unter der Haut durchschimmerten. Die Todesursache war leicht festzustellen: Der Schnitt in seinem Hals war so tief, daß er ihn fast enthauptet hatte. Also war nicht seine ganze Haut verhärtet gewesen.
Der aufgeblähte Leichnam Lord Eddocs hielt Graces Aufmerksamkeit nur einen Augenblick lang gefangen. Auf dem Boden lag bäuchlings eine Gestalt in einer Blutlache. Sie brauchte sein Gesicht nicht zu sehen. Seine stämmigen Schultern und das graudurchsetzte Haar reichten aus. Das Messer ragte noch immer aus seinem Rücken. Seiner Position nach zu urteilen, hatte es zwischen zwei Rippen vorbei sein Herz durchbohrt. Sir Kalleth war tot gewesen, bevor er überhaupt gewußt hatte, wie ihm geschah.
Hinter ihr ertönte ein Keuchen. Lirith.
Der Laut ließ Daynen aufsehen. »Lady Grace? Seid Ihr das? Oder ist das Lady Lirith?«
Grace schüttelte den Kopf. Daynen war gestern in dem Raum gewesen. Aber er konnte nicht sehen. Er wußte nicht, was auf dem Bett lag.
Der Junge runzelte die Stirn. »Was ist denn, Mylady?«
Grace antwortete ihm nicht. Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um und sah nach unten. Tira stand vor der Tür. Das rothaarige Mädchen starrte nach vorn, sein vernarbtes Gesicht war ausdruckslos. Wie schon am vergangenen Abend bewegte es den Arm in einer steifen, stoßenden Bewegung auf und nieder.
Grace wandte sich Lirith zu.
»Holt Durge.«
35
Die fünf Reisenden standen in schockiertem Schweigen vor der offenen Tür zu Eddocs Gemach. Nur das Summen der Fliegen war zu hören. Aryn war im gleichen Augenblick aus ihrem Gemach gekommen, in dem Durge und Meridar mit schweren Schritten die Stufen hinaufgelaufen kamen. Ihr Schrei hatte jedermanns Blut in den Adern erstarren lassen.
Wie mit einer großen Willensanstrengung wandte sich Aryn von dem schrecklichen Anblick im Gemach des Lords ab und drückte das Gesicht gegen Sir Meridars Brust. Zumindest dieses eine Mal schien die Handlung der Baronesse ehrlich und nicht manipulativ zu sein. Die Wut auf dem häßlichen Gesicht des Ritters wurde von Erstaunen ersetzt. Er versteifte sich, dann nahm er die schlanke junge Frau in seine starken Arme.
Lirith fand als erste die Stimme wieder. »Das also wollte Euch Tira gestern abend sagen, Grace.«
Durge sah Grace an. Das Gesicht des Embarraners war so hart wie von den Elementen geschliffener Felsen. »Wovon spricht Lady Lirith?«
»Tira.« Grace verschränkte die Arme. »Ich glaube … ich glaube, sie muß gesehen haben, was Jastar dort tat. Als er Eddoc tötete.«
Daynen stand im Korridor und starrte mit weit aufgerissenen, blinden Augen ins Nichts. Er hielt Tira fest gepackt. Der Ausdruck auf ihrem zur Hälfte geschmolzenen Gesicht war so gelassen wie immer; sie wickelte eine Locke ihres feuerroten Haares um den Finger.
»Kalleth muß den Verdacht gehabt haben, daß hier eine Untat geschah«, sagte Durge. Er wandte sich Meridar zu. »Darum wollte er sich kümmern, als er unser Zimmer verließ.«
Meridar schob Aryn mit sanften, aber zielgerichteten Bewegungen von sich. Lirith nahm die Baronesse und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Meridar ballte eine Hand zur Faust. »Jastar muß in Eddocs Gemach gewartet haben, das Messer in der Hand, voller Furcht, daß einer von uns sein Werk bemerkt. Und Kalleth tat es. Dieser verdammte Verwalter soll verflucht sein. Dafür hole ich mir
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