Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
deutlich, Grace. Benutzt Euer Bewußtsein, nicht Eure Augen.«
Sie versteifte sich. Dann fühlte sie, wie eine schlanke Hand die ihre ergriff. Sie drehte sich um und sah in erschrockene, aber nun irgendwie auf seltsame Weise gefaßt blickende blaue Augen. Aryn.
»Es ist schon in Ordnung, Grace«, sagte die Baronesse. »Wir helfen dir.«
Grace schluckte mühsam, dann nickte sie. Lirith nahm ihre andere Hand, und Grace stand zwischen den beiden Hexen. Sie schloß die Augen, und sie konnte die von ihnen ausgehende Wärme spüren, die sie füllte. Ein Seufzen entfuhr ihren Lippen, und sie fühlte, wie ihre Furcht dahinschmolz. Wenn sie zuvor versucht hatte, mit der Gabe zuzugreifen, war das Netz der Weltenkraft ihrem geistigen Griff entschlüpft. Der Grund dafür war Angst – Angst, sie würde den schrecklichen Flecken aus Finsternis wiedersehen, der mit ihrem eigenen Lebensfaden verbunden war. Aber jetzt umgaben sie andere, hellere Fäden. Sie ließ zu, daß die Macht der beiden Hexen sie füllte, dann griff sie zu und berührte das Muster des Lebens, das auf dem Anger gewoben war.
Sie stöhnte auf. Durge und Meridar leuchteten in der Mitte des Angers wie kalter blauer Stahl. Die Dorfbewohner strahlten weniger hell, aber immer noch klar zu erkennen; sie drängten sich um den Rand der Grünfläche. Und dort, auf der anderen Seite des Platzes, stand jemand, der wie eine Kohle schwarz und glühend zugleich war. Sie riß die Augen auf.
»Jastar«, wisperte sie. »Er hat sie.«
Lirith und Aryn sahen sie fragend an. Sie öffnete den Mund, aber ihr blieb keine Zeit für Erklärungen.
»Verschwindet«, durchdrang die rauhe Stimme des Verwalters den Nebel. »Verschwindet, solange ihr noch könnt.«
»Nicht ohne Gerechtigkeit«, erwiderte Meridar. »Lord Eddoc und Sir Kalleth sind tot durch deine Hand, Verwalter Jastar. Dafür mußt du büßen.«
Grace schloß die Augen wieder. Meridar und Durge standen Seite an Seite, die Schwerter gezogen, der Richtung zugewandt, aus der Jastars Stimme kam. Geduckt und bereit. Aber die Ritter konnten die Dorfbewohner nicht sehen, die sich in diesem Augenblick von rechts und links näherten und deren Füße auf dem feuchten Gras keine Geräusche verursachten. Furcht und Haß hingen genauso dicht in der Luft wie der Nebel.
»Durge!« rief sie. »Durge, sie kommen von den Seiten!«
Sie hörte das Klirren der Kettenhemden, als die Ritter herumwirbelten, sowie die gezischten Flüche von der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Aber es reichte nicht. Sie schloß wieder die Augen. Die Reihen der Dorfbewohner zögerten, dann setzten sie sich wieder in Bewegung, auf die Mitte der Wiese zu. Es waren zu viele von ihnen.
»Wir müssen etwas tun«, flüsterte sie.
Aryn zitterte. »Aber was, Grace?«
Verzweiflung erfaßte sie. Sie wußte es nicht. Was konnte sie schon gegen eine ganze Horde ausrichten? Wenn sich doch bloß dieser Nebel heben würde …
Grace, das ist es.
Es blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. »Helft mir«, sagte sie.
Ein ruhiges Bewußtsein berührte ihren Verstand. Lirith. Was wollt Ihr tun, Schwester?
Ich bin mir nicht ganz sicher. Wenn es funktioniert, werdet Ihr es sehen.
Daß sie Lirith allein in Gedanken geantwortet hatte, registrierte sie nur schwach. Sie umklammerte die beiden Hände – so fest, daß sie leise Schmerzenslaute hörte. Warme Macht flutete in ihren Körper. Die Weltenkraft flammte in ihrem Geist auf, und ihre strahlenden Fäden verliefen in jede Richtung.
Dann sah sie es: schattenhaft und kränklich pulsierte es noch gerade eben am Rand ihrer Sicht. Grace zuckte zurück, von dem Wissen erfüllt, daß wenn sie ihrem eigenen Faden folgte, er direkt in die Finsternis führen würde. Sie sammelte sich; es gab andere Stränge, denen sie folgen konnte. Mit imaginären Fingern ergriff sie die silbern schimmernden Fäden, die zu ihren Seiten Wurzeln geschlagen hatten, und folgte ihnen hinaus in das alles umspannende Netz der Weltenkraft.
Einen Augenblick lang war sie auf gefährliche Weise berauscht. Die Weltenkraft war so riesig; endlos und leuchtend verband sie alle lebenden Dinge. Es wäre so einfach, sich in dieser Faszination zu verlieren.
Weben, Grace. Du mußt weben.
Zuerst nahm sie imaginäre Hände, zog die Fäden zusammen, legte einen über den anderen. Aber das ging nicht schnell genug. Sie stellte sich noch mehr Hände vor, die Stränge sammelten und zusammenknüpften. Dann war es vollbracht. Es schwebte in der Luft und
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