Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
drückte es Travis in die Hand. Es war klein und hart: ein Halbkreis aus Silber.
»Das hier wirst du haben wollen«, sagte der Prediger.
Trotz der Hitze fröstelte Travis. »Ich fürchte mich.«
Bruder Cy nickte wissend. »Wie wir alle, mein Sohn. Wie wir alle.«
Die letzte Röte verschwand vom Himmel. Die Sterne erschienen, Diamanten im Schleier der Nacht.
»Jetzt, mein Sohn, solange noch Zeit ist.«
Travis drehte sich um und starrte das klaffende Loch im Boden an. Er schluckte, dann ging er am Rand in die Hocke und ließ sich in das Grab hinab. Es war tiefer , als er gedacht hatte, dunkler und heißer. Er legte sich auf den Boden und krümmte sich wie ein kleines Kind zusammen. Zeit zum Schlafen.
Von oben kam das letzte Flüstern. »Asche zu Asche, Staub zu Staub …«
Dann fühlte Travis die Schaufel Erde auf sich niederprasseln. Aber es war gar keine Erde.
Es war Regen. Süßer, kalter, erfrischender Regen.
ZWEITER TEIL
Der Rote Stern
18
Grace klammerte sich am Sattel ihres Pferdes fest, als das Schloß in der Ferne zurückblieb.
In der Morgenluft lag der feuchte, grüne Duft des Lebens, und die Sonne war Balsam auf ihren Wangen. Vor ihr hob und senkte sich das Land in goldenen und smaragdgrünen Wogen und marschierte nach Süden ins Herz Calavans. Es war ein prächtiger Tag für einen Ausritt – genau wie gestern und am Tag davor. Endlich war der Sommer da, und es war unmöglich, sich vorzustellen, daß er jemals wieder gehen würde.
Natürlich konnte sich Grace noch immer an die nagende Kälte erinnern, die Calaveres Steine noch vor einer Handvoll Monaten ausgeströmt hatten, und an ihr Zähneklappern, wenn sie jeden Morgen aufstand und jeden Abend zu Bett ging. Dann, eines Nachmittags im Erenndath – was ihren Berechnungen zufolge etwa dem März entsprach – hatte sie aus dem Fenster gesehen und braune Stellen in der sonst unberührten weißen Fläche entdeckt. Aber am nächsten Abend war der Schnee verschwunden, und die Welt hatte sich in eine einzige riesige Pfütze verwandelt.
Beim Fest der Beseelung war es warm genug gewesen, um das obligatorische Bankett im Oberen Burghof abzuhalten, und der Blumenduft aus dem Schloßgarten hatte die Luft versüßt. Aber der Frühling war so kurz wie mild gewesen. Es war der Sommer mit seiner strahlenden Krone, der jetzt in dieser Domäne herrschte.
Und König Boreas natürlich.
Grace beugte sich auf dem mit Silber beschlagenen Sattel nach vorne. Das Damenpferd – schlank, langbeinig und so blond wie frischer Honig – war in diesen Frühling erst zwei Jahre alt geworden und brauchte keine große Aufmunterung. Die Stute ging in den Galopp über, jagte durch einen seichten Bach, daß das Wasser aufspritzte, und raste den langen Abhang eines Hügels hinauf. Grace schloß die Augen und sandte ihre Gedanken aus. Ja, wenn sie sich konzentrierte, konnte sie das vorbeirasende Land fühlen; die Abdrücke der Pflanzen und der kleinen, verborgenen Tiere blitzten hellen Schnappschüssen gleich an ihrem inneren Auge vorbei.
Sie seufzte, dann schlug sie die Augen auf und zog an den Zügeln. Die Stute hielt langsam an und warf ihren Kopf zurück. Grace lachte – sie lachte oft in diesen Tagen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt für sie, und vermutlich war es das auch. Lord Harfen, der Hofmarschall des Königs und Hüter seiner Pferde, hatte sie gewarnt, daß die junge Stute gern lief.
»Schon gut, Shandis, das reicht im Moment«, murmelte Grace und streichelte über den gebogenen Nacken der Stute. Das Pferd war ein Frühlingsgeschenk König Boreas’ gewesen, und Grace hatte den Namen selbst ausgesucht. Er bedeutete Nachtschatten.
Shandis schnaubte deutlich hörbar, als wollte sie sagen, daß sie keine Pause benötigte, aber wenn Grace einen Vorwand für eine Pause brauchte, dann sollte es eben so sein. Zumindest hörte es sich für Grace so an. Doch als Wissenschaftlerin wußte sie, daß es bestenfalls albern und schlimmstenfalls gefährlich war, nichtmenschliche Spezies zu personifizieren. Eine zwei Jahre alte Stute konnte ein Konzept wie Humor genausowenig verstehen wie mit den Hufen einen Baseball fangen.
Andererseits hatte Wissenschaft nichts mit der Art und Weise zu tun gehabt, auf die Graces Herz an jenem Tag im Stall gepocht hatte, als Lord Harfen die Stute in den Mittelgang geführt hatte, oder dem Schauder, der sie durchrieselt hatte, als Shandis mit zögernden Schritten auf sie zugekommen war, um an ihrer
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