Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
schloß sie die Augen. Zuerst hatte sie Angst, dann zwang sie sich dazu, mit der Kraft ihrer Gedanken in den Baum hineinzugreifen.
Sie riß die Augen auf. Sie hatte es gesehen; einen dunklen Knoten im schimmernden Fadennetz, das den Baum umwand. Sie hielt sich den Leib. Was geschah mit ihr? Verfaulte auch sie von innen, so wie der Baum?
Naida hatte sie beobachtet, und jetzt nickte die Alte. »Die Gabe ist stark in Euch.«
Ein starkes Gefühl der Unsicherheit machte sich in Graces Brust breit. »Wo kommt Ihr her?« fragte sie leise.
»Ich habe meine Königin natürlich nach Calavan begleitet.« Sie strich mit den Fingern über eine Blüte, und ihr Blick glitt in die Ferne. »Ich kann mich noch immer an das letzte Mal erinnern, an dem ich innerhalb der Grenzen Calavans stand, obwohl ich damals erst zwölf Winter alt war. Eines Tages kam ein Edelmann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, auf einem weißen Pferd zum Haus meines Vaters geritten. Er führte ein reiterloses Pferd mit sich. Das alles erschien so seltsam – ich konnte mir einfach nicht vorstellen, warum er gekommen war. An diesem Abend aß der Edelmann mit uns. Ich erinnere mich, daß ich ihn für schrecklich alt hielt, dabei war er erst vierundzwanzig. Vierundzwanzig! Und jetzt sieh mich an.«
Sie streckte die Hände aus. Grace vermeinte das Sonnenlicht durch sie hindurchscheinen sehen zu können, die Knochen waren so zerbrechlich und verkrümmt wie Wistarien.
»Am nächsten Morgen saß ich auf dem Rücken des zweiten Pferdes und ritt hinter dem Edelmann her, dessen Name ich kaum behalten hatte, und sah zu, wie mir meine Familie zum Abschied zuwinkte. Ich habe sie nie wiedergesehen. Wir ritten zu seinem Anwesen im Herzogtum Arthannon, und ich lebte dort viele Jahre bei ihm, bis er starb und ich in den Dienst meiner Herrin trat, die damals noch keine Königin war.«
Sie deutete auf den Garten. »Ich wollte immer hierher zurückkehren. Und bevor meine Königin wieder nach Ar-Tolor reiste, bat ich sie, hierbleiben zu dürfen, und der König war so freundlich, mich aufzunehmen.« Sie seufzte. »Für mich gibt es keine Reisen mehr, abgesehen von der einen.«
Grace vermochte nicht zu sagen, an welcher Stelle der Geschichte der Alten sie endlich die Wahrheit begriffen hatte, die sie zu blind und zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war, um sie sofort zu erkennen. »Ihr seid das«, sagte sie. »Lirith wollte, daß ich Euch begegne.«
Naida zuckte mit den Schultern. »Schwester Lirith ist voller seltsamer Ideen. Aber sie ist ein so hübsches Ding. Sie sollte mit einem starken, ansehnlichen Mann verheiratet sein. Genau wie Ihr, Kindchen.« Sie blinzelte Grace verschmitzt zu. »Ein Garten wird viel schöner, wenn man ihn öfters bestellt.«
Graces Wangen röteten sich. »Ich glaube nicht … ich glaube nicht, daß ich jemals einem anderen so nahe sein werde.«
Naida runzelte die Stirn. »Aber wovor habt Ihr Angst? Daß, wenn ein Mann Euch nur aus der Nähe betrachtet, er sieht, daß auch Ihr Falten bekommen werdet? Ist es das, Kindchen?«
Grace trat einen Schritt zurück. Nein, darüber wollte sie nicht sprechen. Es war völlig unmöglich, Naida jemals begreiflich zu machen, warum Grace niemals auf diese Weise berührt werden konnte – nicht von einem Mann und auch von sonst keiner Person.
»Welch Traurigkeit in Eurer Miene! Aber Ihr braucht Euch absolut keine Sorgen zu machen. Nicht ein so feines Ding wie Ihr.«
Naida griff nach ihr, aber Grace wich zurück und wandte sich dem sterbenden Baum zu. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie ihren eigenen schwarzen Mittelpunkt verbergen. »Kann man denn nichts tun, um den Baum zu retten?«
Naida musterte sie, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich fürchte nicht, Kindchen. Vielleicht, wenn wir es früher gewußt hätten. Aber die dort drin befindliche Dunkelheit hat zu lange an ihr gefressen.«
Grace nickte. Es war eine harte Diagnose, aber sie hatte ähnlich schlimme schon Hunderte Male ausgesprochen.
»Nun«, sagte sie und wandte sich wieder Naida zu. »Ich schätze, Lirith hat mich geschickt, um Euch zu helfen. Also was soll ich tun?«
Naida schürzte die Lippen, studierte Grace und zeigte dann auf ein Blumenbeet. »Die schurkischen Dornen schleichen zwischen dem Feenatem her.«
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte Grace und machte sich an die Arbeit.
25
In dieser Woche ging Grace jeden Nachmittag in den Garten, um die Kräutermutter zu besuchen.
Pflanzen waren keine
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