Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
Menschen. Doch wie sich herausstellte, war Gartenarbeit keineswegs so unverständlich, wie Grace angenommen hatte. Büsche und Sträucher waren etwas Lebendiges – nur eben eine andere Art von Leben, als sie gewohnt war. In der Vergangenheit hatten ihre Zimmerpflanzen stets ein böses Ende genommen, aber das lag daran, daß sie immer genauso mit ihnen umging wie mit den Patienten in der Notaufnahme: Behandele sie wie vorgeschrieben, und sie werden entsprechend reagieren. Wie sich herausstellte, waren Pflanzen da etwas komplizierter.
»Ihr müßt wollen, daß sie wachsen«, sagte Naida eines Nachmittags.
Grace hielt in der Arbeit inne. »Bitte?«
Naida strich sich eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ihr könnt nicht einfach etwas in den Boden stecken, Wasser drauf gießen und erwarten, daß es ein Wunder vollbringt, oder, Kindchen?«
Grace schaute auf die Feenatem herunter, die sie gerade umgepflanzt hatte. Sie stand in einem seltsamen Winkel da und sah aus, als würde sie bereits verwelken. »Warum nicht? Es ist doch bloß eine Pflanze, oder?«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Vergebt ihr, Schwestern. Sie weiß nicht, was sie da sagt.«
Grace blickte sich um, plötzlich froh darüber, daß sich Pflanzen nicht bewegen konnten. Denn hätten sie die Macht dazu gehabt, hätten sie vermutlich nur allzu gern ihre kleinen grünen Ranken um ihren Hals geschlungen.
»Seht her«, sagte Naida und begab sich zu dem Feenatem, an dem Grace gearbeitet hatte. »Seht Ihr, wie sie auf die eine Seite kippt? Aber sie würde lieber aufrecht der Sonne entgegenwachsen, nicht wahr? Und hier erhebt sie sich kaum aus dem Boden, obwohl sie sich viel besser fühlen würde, wenn ihre Wurzeln sicher eingepflanzt wären, damit sie sich stolz erheben kann. Und wie wäre es mit einem hübschen kleinen Bewässerungsgraben um sie herum, der den Regen einfängt, wenn er fällt, damit sie trinken kann?« Die alte Frau drückte die letzte Erde um die Blume fest. »Und, ist das so nicht viel besser?«
Grace hatte den Eindruck, daß Naida nicht mit ihr sprach. Trotzdem nickte sie. Sie berührte den Feenatem. »Und welche Eigenschaften hat sie?«
»Ein Tee wird den aufgebrachten Magen beruhigen und Schlaf bringen. Die aus den Wurzeln hergestellte Tinktur hilft bei Hautausschlag. Das ist ihre Magie.«
Grace studierte die zarte weiße Blume. »Aber das ist doch gar keine Magie. Das sind bloß Chemikalien – Tannin, Alkaloide, andere sekundäre Vermischungen. Das ist alles.«
Naida seufzte. »Wenn es das ist, was Ihr glaubt, Lady Grace, dann wird das auch alles sein, was Ihr jemals in ihnen sehen werdet.«
Grace schaute auf und wollte etwas erwidern, aber die Kräutermutter wandte ihr bereits den Rücken zu, um sich um eine andere Pflanze zu kümmern.
Am Abend begab sich Grace zu Liriths Gemach im Westflügel des Schlosses und fragte die Hexe, warum sie sie zu Naida geschickt hatte.
»Eure Studien in der Weltenkraft gingen nicht gut voran«, sagte Lirith, ohne von ihrer Stickarbeit aufzusehen. Das abendliche Lied der Insekten war durch das offene Fenster zu hören.
Grace verschränkte die Arme. »Naida hat mir nichts über die Weltenkraft beigebracht.«
»Die Kräutermutter war stets nur schwach in der Gabe.«
Grace stöhnte. »Warum habt Ihr mich dann überhaupt zu ihr geschickt?«
Lirith schaute auf. »Was glaubt Ihr, Schwester?«
Plötzlich war die Luft im Gemach erdrückend. Grace legte eine Hand auf das Oberteil ihres Gewandes. Hatte Lirith den Schatten in ihr gesehen, so wie Naida ihn in dem sterbenden Baum gesehen hatte?
Lirith beugte sich wieder über ihre Arbeit. »Sowohl Ivalaine wie auch ich haben während schwieriger Zeiten bei der Kräutermutter gearbeitet, so wie viele andere auch. Ich glaube nicht, daß Ihr davon einen Schaden davontragen werdet.«
Das war es also. Es ging nicht darum, etwas von Naida zu lernen. Es war bloß eine Pause. Eine Möglichkeit, sich von der viel anspruchsvolleren Arbeit mit der Gabe und der Weltenkraft auszuruhen. Grace wünschte Lirith eine gute Nacht und verließ den Raum.
Sie ging zu Aryns Gemach, aber eine Dienerin informierte sie in bedauerndem Tonfall, daß die Baronesse endlich eingeschlafen war und König Boreas die strikte Anweisung gegeben hatte, sie auf keinen Fall zu stören. Grace hatte an diesem Befehl nichts auszusetzen. Keine Therapie war so heilsam wie der Schlaf. Trotzdem hätte sie Aryn gern gesehen. Aber sie kehrte zu ihrem Gemach zurück.
Am nächsten Tag
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